Im Mai 2021 wurden die Verhandlungen zum geplanten Rahmenvertrag über die bilateralen Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Schweiz von der eidgenössischen Regierung unter anderem aufgrund der Rolle, die der Europäische Gerichtshof einnehmen sollte, der geforderten dynamischen Rechtsübernahme sowie von Unstimmigkeiten bezüglich der Personenfreizügigkeit und des Arbeitnehmerschutzes abgebrochen. Doch was ist seither passiert, welche Auswirkungen hat der Abbruch auf die Bodenseeregion und wie geht es weiter?

Die Mitglieder der Bodensee-IHK sind sich einig: „Stabile, rechtssichere Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz sind für den Wirtschaftsstandort Bodensee von großer Bedeutung“, wie sie in einer gemeinsamen Pressemitteilung erklärten. Sie erachten diese als „Voraussetzung für den Erhalt und die Stärkung des gemeinsamen grenzübergreifenden Wirtschaftsraums.“ Durch den Verhandlungsabbruch wird ihrer Meinung nach der reibungslose Grenzverkehr im Bodenseeraum riskiert, da keine neuen bilateralen Verträge, die die Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz regeln, abgeschlossen werden und die bisher bestehenden Verträge nach und nach erodieren. Sie sehen die nationalen Regierungen in der Pflicht, zeitnah Bestimmungen zu treffen, welche die grenzüberschreitenden Wirtschaftsaktivitäten klar regeln.

Zur Bodensee-IHK
In der Vereinigung der Bodensee-Industrie- und Handelskammern (B-IHK) haben sich sechs Wirtschaftskammern mit Sitz in drei Ländern zusammengeschlossen. Sie fördern den Wirtschaftsraum rund um den Bodensee als eigenständige, wettbewerbsstarke Region. Die B-IHK umfasst aus Deutschland die IHK Bodensee-Oberschwaben, Hochrhein-Bodensee und Schwaben, aus Österreich die Wirtschaftskammer Vorarlberg sowie aus der Schweiz die IHK St.Gallen-Appenzell und die IHK Thurgau.

Wirtschaftliche Verflechtung
Doch warum sind die Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz vor allem am Bodensee von so hoher Bedeutung? Markus Bänziger, Direktor der IHK St. Gallen-Appenzell erklärt: „Das Warenhandelsvolumen zwischen der Schweiz und Süddeutschland allein ist größer als jenes zwischen der Schweiz und China.“ Er weist damit auf die „hohe Verflechtung der Wirtschaft um den Bodensee“ hin. Prof. Claudius Marx, Hauptgeschäftsführer der IHK Hochrhein-Bodensee, pflichtet seinem Schweizer Kollegen bei: „Wenn es um die grenzüberschreitenden Handelsbeziehungen geht, sitzen wir hier in Südbaden ‚in der ersten Reihe‘.“ Für ihn sind dabei nicht nur die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Ländern zu beachten, sondern auch die Kooperationen zwischen Hochschulen und die grenzüberschreitenden Arbeitswege Zehntausender Pendler. „Sie alle profitieren von offenen Grenzen, ohne Bürokratie, Zölle, Einreisebeschränkungen und technische oder andere, sogenannte nichttarifäre Handelshemmnisse“, so Marx. „Die Schweizer Teilnahme an der Personenfreizügigkeit sowie am Schengenraum ermöglicht die weitgehend barrierefreie Bewegung der Bevölkerung“, stimmt ihm Markus Anselment, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der IHK Schwaben, zu.

Auswirkungen des Verhandlungsabbruchs
„Aktuell lautet die Devise aus Brüssel: Ohne Rahmenabkommen keine weiteren Abkommen mehr mit der Schweiz“, fasst Wilfried Hopfner, Präsident der Wirtschaftskammer Vorarlberg, die momentane Lage zusammen. Als erstes Beispiel hierfür nennt er die Medizinalprodukteverordnung. Über das sogenannte „Mutual Recognition Agreement“ (MRA) erhielten Produkte europäischer Hersteller, wenn diese in der Schweiz produziert wurden, automatisch den EU-Pass. Am 26. Mai 2021 lief dieses Abkommen jedoch aus, ohne verlängert zu werden. Seither gilt die Eidgenossenschaft im Bereich der Medizinprodukte als Drittstaat, und wesentliche Handelserleichterungen zwischen der Schweiz und der EU fielen weg. Auswirkungen, die auch in weiteren Branchen zeitnah folgen könnten, wie Anselment warnt: „Durch den Wegfall bzw. die fehlende Aktualisierung der bilateralen Verträge entstehen massive Zugangsbeschränkungen – zukünftig auch im Maschinenbau.“

Jérôme Müggler, Direktor der IHK Thurgau, hofft indessen, dass die Hürden möglichst bald überwunden und in der Zwischenzeit nicht noch mehr Bereiche von den auslaufenden Verträgen betroffen sein werden: „Der Vorteil – wenn man so will – ist, dass sich die Dinge nicht von heute auf morgen ändern“, stellt er fest und fügt an: „Insofern ist seit Mai 2021 vorerst vieles beim Alten geblieben.“ Nichtsdestotrotz mahnt er bezüglich weiterer Konsequenzen: „Zurzeit ist die Schweiz vom europäischen Forschungsprogramm ‚Horizon Europe‘ ausgeschlossen, was für beide Seiten sehr unvorteilhaft ist. Hier wird die Bildung eine ‚Geisel‘ der Politik, was nicht im Sinne des gemeinsamen Fortschritts ist.“ Anje Gering, Hauptgeschäftsführerin der IHK Bodensee-Oberschwaben, stimmt dem zu und berichtet von „Auswirkungen auf grenzüberschreitende Wirtschafts- und Forschungsprojekte“. Beide weisen darüber hinaus auf die Blockierung weiterer (neuer) Abkommen wie zum Strommarkt, zur Gesundheit oder zur Cyber Security hin. Marx von der IHK Hochrhein-Bodensee resümiert: „Ein fehlendes Rahmenabkommen birgt die Gefahr eines sukzessiven Auseinanderdriftens des Schweizerischen und des Europäischen Rechts über die Zeit. An Tag eins passiert noch nichts, aber dann kann jede neue oder geänderte Europäische Verordnung oder Richtlinie dazu führen, dass die beiden Rechtsordnungen auseinanderfallen.“

Zum institutionellen Rahmenvertrag
Mit einem Rahmenvertrag sollen die Rechtsordnungen der EU und der Schweiz im Interesse eines freien und ungehinderten Waren- und Personenverkehrs homogenisiert und damit unter anderem die grenzüberschreitenden Handelsbeziehungen erleichtert und Wettbewerbsverzerrungen vermieden werden. Die Idee hinter einem Rahmenabkommen ist, das Geflecht der vielen bilateralen Verträge unter ein gemeinsames institutionelles Dach zu bringen. Der Schwerpunkt soll dabei auf den fünf bestehenden Marktzugangsabkommen – Personenfreizügigkeit, technische Handelshemmnisse, landwirtschaftliche Erzeugnisse, Luftverkehr und Landverkehr – liegen. Gewährleistet werden soll so unter anderem, dass die Schweiz ihr nationales Recht immer dann, wenn sich das Europäische Recht fortentwickelt oder ändert, automatisch und parallel im Rahmen der hiesigen demokratischen Prozesse nachführt. Hinzu kommen die einheitliche Auslegung und Anwendung dieses gemeinsamen Rechts und schließlich, wo dies nicht gelingt, die Anerkennung einer einheitlichen Jurisdiktion – die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs.

Was nun?
Aktuell gibt es keine offiziellen Verhandlungen zum institutionellen Rahmenvertrag, im Hintergrund laufen aber weiterhin Gespräche. So schildert Anje Gering, dass „Baden-Württemberg großes Interesse an einer Aufnahme der Gespräche hat, was der Besuch von Ministerpräsident Kretschmann Ende April in Basel und Zürich zeigt“. Prof. Claudius Marx berichtet zudem von informellen Gesprächen, die trotz des formellen Verhandlungsabbruchs stattfänden. Wie lange es dauert, bis offiziell weiterverhandelt wird, ist ungewiss. Markus Anselment fügt beispielsweise an, dass die EU von der Schweiz einen verbindlichen Zeitplan verlange, die Regierung in Bern das aus ihrer Sicht heikle Thema jedoch erst nach den eidgenössischen Wahlen im Herbst 2023 weiterverhandeln möchte. Wilfried Hopfner wird sogar noch deutlicher: „Die Schweizer Regierung hat klargestellt, dass eine Neuauflage des gescheiterten Rahmenvertrags für sie nicht infrage kommt. Sie will künftig die institutionellen Streitfragen separat in den Marktzugangsabkommen regeln.“ Er ergänzt: „Vonseiten der EU will man sich diesem Vorgehen zwar nicht von vornherein verschließen, jedoch ließ man bisher wenig Begeisterung darüber erkennen.“

Eine Meinung, der sich die schweizerische Seite um Markus Bänziger von der IHK St. Gallen anschließt: „Statt eines separaten Abkommens will der Bundesrat die institutionellen Fragen innerhalb der bestehenden Abkommen regeln.“ Er erzählt, dass dazu aktuell Gespräche zwischen der Schweiz und der EU laufen würden. Ob es zeitnah zu einer Lösung komme, sei für ihn eher fraglich: „Es zeichnet sich ab, dass die Gründe, die zum Scheitern des institutionellen Abkommens (InstA) führten, nach wie vor von Bedeutung sind und die Differenzen zunächst gelöst werden müssen.“ Jérôme Müggler bestätigt den Verhandlungswillen der Schweizer Regierung und berichtet, dass die für das EU-Dossier zuständige Staatssekretärin Livia Leu sich dazu bereits seit Spätherbst 2021 im Austausch mit der EU befände. „Nicht nur die Wirtschaft, auch viele Entscheidungsträger in der Politik – gleich ob Schweiz oder EU – sind überzeugt, dass der aktuelle (Nicht-)Verhandlungsstand nicht das letzte Wort sein darf“, fasst Marx von der IHK Hochrhein-Bodensee die Situation zusammen und ergänzt: „Die Schweiz und die EU sind schon mehrfach nicht zusammengekommen und doch nie auseinandergefallen. Immer wurden sekundäre Lösungen gefunden, die – wie etwa die bilateralen Abkommen – ihrerseits eine Erfolgsgeschichte begründeten. Auch im jetzigen Fall wird es eine Lösung geben. Geben müssen.“

Beitragsbild: Wirtschaftraum Bodensee – enge Vernetzung und grenzüberschreitende Zusammenarbeit | (c) Achim Mende
Text: Andrea Mauch