Jedes Jahr in der Adventszeit bricht in St.Gallen das Panettone-Fieber aus: Kunden von weit über der Grenze stehen im Linsebühl Schlange, weil Pietro Cappelli nicht nur anerkannterweise einen der besten Panettone der Schweiz produziert, sondern auch in einer Vielzahl von exklusiven Varietäten, die wohl selbst in Italien ihresgleichen suchen.

Von Peter Hummel

Dass es in St.Gallen die famosesten Kalbsbratwürste weit und breit gibt, ist bekannt. Dass aber die Gallusstadt mit einem Produkt aufwartet, das in jüngster Zeit noch viel mehr Auszeichnungen einheimste, überrascht doch eher: dem Panettone. Verantwortlich dafür ist aber nicht eine ganze Zunft, sondern ein einzelner Bäcker – Pietro Cappelli. Seit 1983 führt der italienisch-schweizerische Doppelbürger seine Panetteria im Linsebühl. Schon bald erwarb er sich den Ruf als bester Gipfel-Bäcker der Stadt. Und statt mit der Bibertradition vom übernommenen Geschäft wollte er sich mit Panettone profilieren; das Mailänder Weihnachtsgebäck lag ihm eher im Blut. Vor 15 Jahren bewarb er sich erstmals bei der Swiss Bakery Trophy des Bäckereiverbandes – und wurde auf Anhieb mit einer Gold- und zwei Silbermedaillen ausgezeichnet. Cappellis Geheimnis: „Der klassische Panettone soll luftig-wattig sein, ein flauschig-feuchter Traum aus Butter, Ei, Mehl, Rosinen, Orangeat und Zitronat.“ Sein gewisses Extra machen wohl die auserlesenen Zutaten aus, direkt importiert aus Italien: Aus dem Garten seiner 86-jährigen Mamma auf der sizilianischen Insel Lipari stammt immer noch ein schöner Teil der Zitrusfrüchte (Orangen, Mandarinen, Zitronat-Zitronen), von einem Vetter im sizilianischen Librizzi die ebenso unvergleichlichen Pistazien. Italianità pura. Natürlich mag der Meister sein Rezept nicht preisgeben, da hält er es wie die Appenzeller mit ihrem Käse. „Die genaue Anleitung kennt nur die Familie“. Er hat auch den Begriff „Il Panettone di San Gallo“ als Markenzeichen schützen lassen. Immerhin verrät er so viel: Die Panettone bestehen aus einem milden Sauerteig (sind also keine eigentlichen Hefegebäcke), der lange ruhen muss; der ganze Prozess dauert 36 Stunden. Und nach dem Backen werden die größeren „Pilze“ bis zum Erkalten kopfüber aufgespießt, wodurch verhindert wird, dass die luftige Kuppel in sich zusammenfällt. Die industrielle, oft sehr trockene Massenware, die wochen- oder gar monatelang bei Großverteilern herumsteht, hat wenig mit diesem artisanalen Produkt zu tun. Den Trends gehorchend hat Cappelli auch Versuche mit Dinkel- und veganen Varianten unternommen – wegen des Geschmacks und der Form, die überhaupt nicht überzeugten, ließ er es aber bleiben.

Jede Sorte bekommt ein anderes Dekor.

Qualität + Publizität = Panettonerausch

Mittlerweile hat der Maestro für seine Panettone und das österliche Pendant Colombe über zwei Dutzend Trophy-Medaillen gewonnen. Medien aus der ganzen Schweiz berichten über den „St.Galler Panettone-Papst“. Klar sind darüber insbesondere etliche ebenfalls hervorragende Tessiner Kollegen not amuzed. Pietro Cappelli selber ist zwar stolz, bleibt aber realistisch: „Natürlich gibt es im Tessin und speziell in Italien ebenso gute handwerkliche Hersteller.“ Gewiss ist er von Ehrgeiz und noch vielmehr von Qualitätswillen getrieben; vor allem aber hat er auch ein gutes Händchen für Marketing und Publicity. So hat er 2003 zum 20. Geschäftsjubiläum eine 67 Kilogramm schwere Weltrekord-Colomba, welche die ganze Ofenbreite füllte, gebacken und auf der Straße vor dem Laden verteilt. Und noch heute ist er sich nicht zu gut, bei Koryphäen in Italien Tipps und Tricks zu holen. Prompt landete er bei der letztjährigen Trophy-Verleihung 2022/23 einen Coup: Für seinen Panettone al Mandarino di Lipari wurde nicht nur Gold, sondern erstmals die vollen 100 Punkte verliehen.

Kein Wunder, dass die Nachfrage nochmals sprunghaft zunahm. Der Panettone-Rausch vor Weihnachten wurde noch größer, aus der ganzen Schweiz und dem benachbarten Ausland kommt die Kundschaft hergepilgert. Die Kunden stehen nicht nur wegen der Qualität für den Panettone di San Gallo an, sondern auch wegen der einmaligen Sortenvielfalt, die fast jährlich erweitert wird und aktuell 19 Varietäten umfasst. Als spezielle Weihnachtseditionen werden heuer der Panettone all‘ Amarena di Librizzi und der Panettone alla Nocciola di Nasidi dazukommen.

Je näher Weihnachten, desto länger die Warteschlangen.

Italianità bis zum Einpacken

Seit 2017 gibt es zwar am Ende der Linsebühlstrasse die größere „Fabbrica del Panettone“, doch die Warteschlange auf dem Bürgersteig ist gleichwohl stetig größer geworden. Beim all dem Andrang entgeht den meisten Kunden, um was für ein Schmuckstück es sich bei der Fabbrica handelt: Marmorboden, Stukkaturen, Fliesen einer Kirche aus dem 17. Jahrhundert, ein Fußboden eines Gebäudes aus dem 15. Jahrhundert, in den Wänden Elemente aus liparischem Lavastein. Ein verspieltes kleines Gesamtkunstwerk – Italianità zum Zweiten. Und natürlich ist auch Fabbrica nur eine Wortspielerei, vielmehr handelt es sich um eine veritable Manufattura. Aber mit unglaublichem Ausstoß: Allein in der weihnachtlichen Spitze eine Tonne Panettone pro Tag; produziert wird praktisch rund um die Uhr. Übers ganze Jahr kommen 36 Tonnen zusammen.

Come in Italia: Rote Geschenkfolie.

Weil die Fabbrica eigentlich längst zu klein ist (die Teigherstellung erfolgt nach wie vor in der Panetteria), denkt Cappelli über eine Erweiterung nach. Dazu müsste allerdings die Nachfolge geregelt werden, da er in wenigen Jahren das Pensionsalter erreicht. Eigentlich hat er an seiner Spezialitätenproduktion aber „nach wie vor Spaß“, zumal er mit seiner Frau Gaby stets eine starke Frau im Rücken weiß. Immerhin leistet „tutta la famiglia“, tatkräftige Hilfe beim Einpacken und etikettieren – Italianità zum Dritten!