Das Auto ist des Deutschen liebstes Kind, so sagt der Volksmund. Und wie Kinder braucht auch das Auto regelmäßig neue „Schuhe“. Allein in der Vierländerregion Bodensee werden jährlich über 2,5 Mio. Reifen verkauft. Eine Menge, die es zuließe, mit zwei übereinander gestapelten Reifen die 270 km Uferlänge lückenlos zu schließen – und zwar längs, nicht breit: eine 1,20 Meter hohe schwarze Gummiwand pro Jahr rund um den Bodensee nur durch die Reifen der Einheimischen. Doch wo kommen sie her und wo gehen sie hin, wenn es sich ausgerollt hat? Pünktlich zum Reifenwechsel lohnt sich ein genauer Blick auf das Profil.
VON ANNE MITTMANN

Bei abgefahrenen Reifen kennen die meisten Autofahrer*innen kein Pardon: Neue Reifen müssen her. Ganz im Interesse der Reifenhändler, -produzenten und Werkstätten vor Ort, die natürlich – neben der vielbeschworenen Sicherheit – ihre Ware verkauft wissen wollen. Vier neue Reifen, das bedeutet automatisch vier alte Reifen, die fachgerecht entsorgt werden müssten. Der Konjunktiv ist hier Programm. Müssten, sollten, wollten: Nicht selten sieht man ausrangierte Autoreifen in Schrebergärten, Waldlichtungen oder illegalen Müllplätzen, deren langsamer Verfallsprozess die Umwelt schwer belastet. Laut des Verbunds der Zertifizierten Altreifen Entsorger (ZARE) wurden in Deutschland allein im Jahr 2023 über 31.000 Reifen illegal in der Umwelt entsorgt. ZARE appellierte daher Ende 2023 an Werkstätten und Autofahrer*innen, Altreifen nur an zertifizierte Entsorger abzugeben, um eine illegale Ablagerung zu verhindern und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass die Altreifen dem bestmöglichen Verwertungszweck zugeführt werden. Seriöse Dienstleister lassen sich die Entsorgung selbstverständlich bezahlen, wobei Entsorgung nicht immer mit Recycling gleichzusetzen ist. Als Heizmaterial in den Öfen von Zementfabriken verfeuert, werden die wertvollen Komponenten von Altreifen endgültig zerstört.

Recycling vom Bodensee

Doch es geht auch anders. Am Bodensee investiert die regionale Wirtschaft Millionen in modernes Reifen-Recycling. So verfolgt Zeppelin Systems in Friedrichshafen das Ziel, rund 60.000 Tonnen Reifen im Jahr in die Kreislaufwirtschaft hinüberzuretten. Nicht umsonst ist Zeppelin Systems Friedrichshafen (ZF) Teil der Allianz Zukunft Reifen (AZuR), die sich für eine nachhaltige Reifen-Kreislaufwirtschaft in Europa politisch wie wirtschaftlich stark macht. Neureifen sollen möglichst nachhaltig hergestellt und Altreifen durch Runderneuerung, Reparatur oder Recycling im Wertstoff-Kreislauf gehalten werden. Im März 2023 hat Zeppelin Systems die Zeppelin Sustainable Tire Alliance gegründet und bietet damit – nach eigener Aussage – alle benötigten Lösungen, um die Kreislaufwirtschaft im Bereich der Reifenproduktion zu unterstützen. Das Zauberwort? Pyrolyse. Dabei wird Gummi aus Altreifen in die Stoffe Gas, Öl und recovered Carbon Black (rCB) zerlegt, die dann wiederum in der Herstellung von Textilien, neuen Reifen, Gummikomponenten, Kunststoffen, Stahl oder Flugzeugtreibstoff verwendet werden können. So soll das polnische Unternehmen ReOil, Teil der Zeppelin Sustainable Tire Alliance, nach Fertigstellung einer zweiten Pyrolyse-Anlage durch ZF pro Jahr 60.000 Tonnen Altreifen in die nachhaltige Kreislaufwirtschaft zurückführen können. Ganz schön viel Gummi.

Weißes Gold

Apropos Gummi. Wo kommt der Hauptbestandteil eines jeden Autoreifens, der Naturkautschuk, eigentlich her? Die weltweit größten Produzenten vom „weißen Gold“ sind Thailand und Kambodscha. Laut der WDR-Dokumentation „Schmutzige Reifen: Ein Milliardengeschäft“ aus dem Jahr 2019 werden auf thailändischen Kautschuk-Plantagen jährlich über vier Millionen Tonnen Kautschuk geerntet. Allein in den vergangenen 30 Jahren sei die Produktion um 300 Prozent gestiegen. Der Hunger nach Kautschuk verlangt nach Fläche und zerstört intakten Regenwald. Doch Kautschuk-Plantagen stellen nicht nur ein ökologisches, sondern auch ein soziales Problem dar. Laut den Recherchen des WDR arbeiten die Tagelöhnerinnen bis zu 12 Stunden am Tag, meist in der Nacht, und das für weniger als die Hälfte des thailändischen Mindestlohns. Tausende Landarbeiterinnen sollen durch den Einsatz des hochgiftigen Herbizids „Paraquat“ jedes Jahr ums Leben kommen, weil keine adäquate Schutzkleidung zur Verfügung steht. In Kambodscha verpachtet die Regierung unter Beihilfe des Militärs Land ohne Rücksicht auf die eigentlichen Besitzverhältnisse und zwingt die enteigneten Familien auf diese Weise, als Tagelöhnerinnen auf ihrem ehemals eigenen Land zu arbeiten. Durch die Zwischenhändlerinnen lässt sich die genaue Herkunft von Naturkautschuk oft nicht rückverfolgen. Dennoch betonen deutsche Konzerne wie beispielsweise Continental auf Anfrage des WDR, sie würden „natürliche Rohstoffe gewissenhaft“ verwenden.

Recycling Royale

Was wäre gewissenhafter als ein möglichst sparsamer Verbrauch? Beim „Königsweg der nachhaltigen Reifen-Kreislaufwirtschaft“ (AZuR) werden alte Reifen sorgfältig geprüft, runderneuert und zurück auf die Straße geschickt. Laut einer Studie des Fraunhofer Instituts im Auftrag der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) spart die Runderneuerung gegenüber der Neureifenherstellung rund zwei Drittel Rohstoffe (vor allem Kautschuk), über 60 Prozent CO2-Emissionen und rund 50 Prozent Energie (Strom und Gas). Runderneuerte Markenreifen für Pkw, Lkw und Nutzfahrzeuge hätten erwiesenermaßen dieselbe Qualität,
Sicherheit und Laufleistung wie vergleichbare Neureifen, seien in der Anschaffung um bis zu 30 Prozent günstiger und bieten klare ökologische Vorteile. Und es gibt sie sogar „made in Germany“: Der deutsche Hersteller King-Meiler produziert seit über sechzig Jahren runderneuerte Reifen – mit Erfolg. Im Februar 2024 veröffentlichte die AZuR eine Meldung, dass der Chemiekonzern BASF seine Betriebsfahrzeuge am Stammsitz Ludwigshafen sukzessive mit runderneuerten Markenreifen von King-Meiler ausstatten werde. Auch im Motorsport sind runderneuerte Reifen erfolgreich, und im Flugverkehr schon lange gang und
gäbe. Der gesunde Menschenverstand verbietet also jegliche Bedenken in puncto Sicherheit. Doch was ist mit dem Fahrgefühl, dem ästhetischen Empfinden, dem Savoir de Vivre? Ein runderneuerter Premium-Reifen fährt sich wie ein Mittelklasse-Reifen, sieht aus wie ein Mittelklasse-Reifen und riecht so fabrikneu nach Gummi, wie man es sich nur wünschen kann. Dazu kommt das federleichte Gefühl eines guten Gewissens und das verheißungsvolle Knistern der Scheine, die man beim Kauf gespart hat. Savoir de Vivre,
aber richtig!

Der Weg ist das Ziel

Mit Inkrafttreten des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes im Januar 2024 haben Autofahrer*innen eine höhere Chance, die Herkunft ihres Autoreifens nachvollziehen zu können und eine informierte Kaufentscheidung zu treffen.

Foto: Aus alt mach neu: Impressionen aus der Produktion von Runderneuerten von King Meiler © King Meiler