Johanna Schall wirkt relativ ruhig. Immer konzentriert, ist die Präsenz ihrer Anwesenheit jedoch verblüffend. So fokussiert ihr Blick ist, begleitet ihn beständig ein kleines Lächeln im Augenwinkel, das ihr Gegenüber auf einen Spaziergang in die eigene Welt einlädt. Ihre Geschichten handeln von Aufständen und Kindheitserinnerungen, ihr Kopf strickt an Utopien und der strahlend rote Mund erzählt davon mit intelligenter Reflektiertheit. akzent trifft sie im industriellen Flair der Probebühne des Konstanzer Theaters, das sich mit seinem graumelierten Konzept an die Regisseurin anschmiegt, als würden sie zusammengehören.

Die Tage der Commune, Schauspiel nach Bertold Brecht; Regie: Johanna Schall

akzent: Sie sagten mal, dass Sie das Stück „Die Tage der Commune“ schon seit Langem machen wollen. Was fasziniert Sie so daran?

Die Größe des Traums

Johanna Schall: Es gibt da zwei Punkte. Als ich etwa zehn war, hat das Berliner Ensemble, wo zu der Zeit meine Eltern engagiert waren, das Stück gespielt. Wir Kinder sind dann immer abends hin, weil wir Baguette bekommen haben, was in der DDR nicht so leicht zu kriegen war. Jetzt habe ich zum Beispiel gemerkt, dass ich noch alle Lieder von damals auswendig kann. Und in den vergangenen Jahren gab es öfter und verschiedenartig Gruppierungen, bei denen sich Leute – ob das Attac ist, oder auch die Gelbwesten – zusammengefunden haben, die aus verschiedenen Ecken kommend und mit unterschiedlichen und teilweise auch sehr verschwommenen oder nicht homogenen Zielsetzungen versucht haben, einem Grundgefühl von Unzufriedenheit Ausdruck zu geben. Man könnte das sogar bis zur AfD hin ziehen. Da habe ich auch das Gefühl, dass sich etwas zusammenfindet, bei dem ein mulmiges Gefühl erst mal Ausdruck findet und dann missbraucht wird. Und ich habe selten ein Stück gelesen, wo das auf eine so genaue und intelligente und trotzdem naive Form durchgespielt wird.

Nun ist diese 71er Revolution wie eine kleine Kiste Utopie mit einem ganz üblen Ende. Und über die wird auch von den Franzosen wenig gesprochen im Gegensatz zu den anderen Revolutionen. 72 Tage dauerte sie offiziell und wurde auf blutigste Weise niedergeschlagen. Aber was die dazwischen versucht haben, worüber die gesprochen haben, die Größe des Traums, den sie hatten – das hat mich sehr berührt, und das ist glaube ich im Augenblick etwas unser Problem. Ich habe das Gefühl, dass sich die meisten Sachen nur über Protest formulieren, also gegen etwas zu sein, was man alles nicht will, womit man nicht zufrieden ist und es irrsinnig schwer ist, eine Utopie zu haben. Vielleicht auch durch den Zerfall des sozialistischen Systems, Gott sei Dank. Aber dadurch sind auch Utopien verdächtiger geworden. Dass man sich überhaupt traut, eine zu haben, oder dass man sagt: Das wäre etwas, wovon ich bereit bin zu träumen und auch etwas dafür zu tun. Dabei ist es ja hart zu leben ohne eine Utopie. Plötzlich gehen dann ganz viele Leute in die Religion, oder was weiß ich, werden Veganer, suchen sich irgendeinen Fluchtpunkt. Aber wir als Gesellschaft haben im Augenblick eigentlich keinen Traum. Was vielleicht auch was Gutes hat, da diese Träume ja sehr übel umschlagen können, wenn man sich die Geschichte anschaut, zum Beispiel in den sogenannten sozialistischen Staaten. Aber trotzdem denke ich, fehlt was, grade für die Jungen. Wie enthusiastisch reagieren die jetzt, wenn ihnen jemand einen Punkt anbietet und sagt: Kinder, wir müssen was tun! Das Klima ist in großer Gefahr, unsere Welt ist in Gefahr! Aber auch da ist es wieder ganz schwer, zusammen irgendeine Form von positivem Gedanken dazu zu haben, etwas außer: Alles geht unter.

akzent: Aber man hat eben diese Gemeinschaftsvorstellung, auf die man zusammen hinarbeitet.

Facebook ist wie früher der Dorfbrunnen

Johanna Schall: Ja, und das ist in dem Stück sehr schön zu sehen, weil es sehr verschiedene Leute mit verschiedenen Ansätzen, verschiedenen Haltungen und auch sehr verschiedenen Reaktionen auf bestimmte Dinge zeigt. Wie die versuchen, sich auf einen Punkt zu einigen, wenigstens für eine Strecke, wie anstrengend es ist, wie schwierig es ist. Ein ganz extremer Punkt für mich ist folgender: Ich bin ein sehr reger Nutzer von Facebook, weil ich sehr viel unterwegs bin und Facebook ist für mich etwas wie der Brunnen im Dorf früher. Aber ich sehe zum Beispiel, dass die Streitkultur, die dort herrscht, horrend ist. Die Lust, dass man jemanden mit einer anderen Meinung hat und dann mit dem redet und versucht, gegenseitig sich die bestmöglichen Argumente zuzuschieben, wird über große Teile dadurch ersetzt, dass man dem anderen sagt, du bist böse, du bist schlecht, irgendeinen Quark. Und dann wird es immer aggressiver. Es heißt doch: So ab 50 Kommentaren sagt immer jemand „Du bist Faschist“ oder Nazi, irgend so was.

Schwarz und Weiß

All das finde ich in dem Stück. Dazu hat es eine tolle Struktur, weil es auf einer privaten Ebene, also der eines fast familiären Bundes erzählt und dann auf der nächsten Ebene der Versammlungen der Commune, wo die Themen ganz hart ausdiskutiert werden. Dann kommt zynisch die dritte Ebene der obendrüber, die eigentlich die Macht in der Hand haben: Bismarck, Thiers, Favre oder der Bankier von Frankreich. Da siehst du, welche Machtverhältnisse wirklich herrschen und wie weit die gehen, um diese Macht zu sichern und das finde ich auch zum Blick auf die Welt nicht unwichtig. Zumal an unseren Schulen Dialektik nicht gelehrt wird, was ein großer Verlust ist, wie ich finde. Vor allem da dialektisch zu denken die Welt besser verständlich macht, als wenn man immer versucht zu sagen: Schwarz – Weiß.

akzent: Es ist ja ein Stück Ihres Großvaters, wie ist es für Sie, dabei Regie zu führen?

Johanna Schall: Ich habe ihn nicht kennengelernt. Ich glaube, das ist für die Leute, die auf mich gucken, anders als für mich. Ich weiß, das ist mein Großvater, aber er ist gestorben zwei Jahre vor meiner Geburt. Insofern sind es eher Erwartungen, mit denen ich gelebt habe, oder ein bestimmter Blick auf mich. Ich habe mehr Kleist gemacht oder mehr Shakespeare als Brecht. Ich mache auch Brecht sehr gerne. Nicht alles. Es gibt Stücke von ihm, die ich überhaupt nicht mag und es gibt Stücke, die ich sehr liebe.

akzent: Aber er ist dann eigentlich wie jeder andere Autor auch.

Johanna Schall: Ja, es wird nur anders auf mich geguckt: Ich weiß ja auch nicht, warum sich da Leute so reinsteigern, als ob man da genetisch irgendwas mitkriegt. Ich habe rein genetisch gar nichts mitgekriegt, ich dichte auch nicht.

akzent: Haben Sie das Gefühl, dass Sie andere Autoren oder Erfahrungen, die Sie am Theater gemacht haben, Stücke, die Sie behandelt haben, in eine Richtung geprägt haben?

Die Komik in der Welt

Johanna Schall: Geprägt weiß ich nicht, ich wurde ausgebildet. Ich bin Absolventin der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. Ich habe ganz viel mit Alexander Lang gearbeitet und hatte das große Glück, auch mit Heiner Müller und Thomas Langhof zu arbeiten. Diese drei Regisseure waren für mich ganz wichtig, aber auch untereinander sehr verschieden. Ich komme sicher aus dem physischen Theater und liebe Sprache. Deshalb bin ich absoluter Kleist-Fan, sobald jemand Kleist sagt, bin ich da.

Ich bin auch Clown von Beruf. Da meine ich nicht jemanden mit einer roten Nase und großen Schuhen, sondern wie ich auch den Beruf des Schauspielers verstehe. Das Wort „Clown“ ist sehr besetzt, daher vielleicht eher Narr. Es kann der Narr wie Till Eulenspiegel sein, aber auch der Narr wie im Lear, der verschlüsselt immer versucht, Wahrheit unterzubringen. Das ist schon eine Sicht auf die Welt und hat nichts mit Kabarett zu tun. Weil die Welt in sich so widersprüchlich ist, hat sie auch oft eine Komik, die unter anderem sehr erschütternd sein kann.

akzent: Eine ungewollte Komik dann.

Johanna Schall: Ungewollt oder… Ich weiß, dass die Schauspieler zum Teil sagten, sie hätten beim Lesen nicht erwartet, dass das Stück auch so komödiantische Elemente hat und auch sehr witzig ist. Das finde ich ganz oft schade, bei Brecht wird schnell übersehen, was für einen schrägen und gesunden Sinn für Humor der hat.

akzent: In dem Stück geht es auch darum, wie politische Großereignisse Einzelschicksale formen und beeinflussen. Sie haben ja zum Beispiel DDR, BRD und Mauerfall erlebt, hat Sie das persönlich auch so beeinflusst?

Verflixter Mist, wen wähle ich denn jetzt bloß?

Johanna Schall: Aber natürlich! Ich habe 30 Jahre in einem Land gelebt und seitdem lebe ich in einem anderen Land. Und ich bin sehr froh, dass es das damalige Land nicht mehr gibt, ich hatte viele Freunde, denen es da gar nicht gut ging, die unter anderem im Gefängnis saßen. Ich zum Beispiel durfte reisen und die meisten anderen nicht. Natürlich hat mich das geprägt, das ist ein biografischer Einschnitt, der enorm ist. Es war dann eine tolle Zeit, dabei zu sein, als sich Sachen wirklich änderten, und daran, wie auch immer klein, mit beteiligt zu sein. Jetzt gehst du wählen und ich dachte „endlich!“. Aber heute stehe ich oft in der Wahlkabine und denke „Verflixter Mist, wen wähle ich denn jetzt bloß?“. Weil eigentlich findest du alle blöde. Früher war es eben so, dass sowieso klar war, wer mit 99% gewinnt und jetzt kannst und musst du wählen …

akzent: Jetzt, wo Sie in Konstanz aufführen, was ist für Sie das Besondere an der Stadt und am Theater?

Das gibt es also auch

Johanna Schall: Erstmal ist es natürlich toll, dass man eine komplett nicht zerbombte Stadt hat, mit großer Altstadt. Das ist erstaunlich. Als ich das erste Mal hier war, war auch noch Fastnacht und ich stand hier und dachte: Boah ok, das gibt es also auch. Es ist schon sehr schön hier mit dem See und allem. Toll ist auch, dass meine Erfahrungen mit dem Ensemble sehr gut sind. Die haben wirklich Stress mit Premieren, Produktionsbeginnen, manche sind verlängert, andere nicht … Aber sie haben eine große Fähigkeit, diesen Stress und alles drum herum aus den Proben zu lassen und miteinander sehr gut umzugehen. Das finde ich wichtig, dadurch fühlt man sich geschützt, auch beim Spielen, und kann sich trauen, sich auf der Bühne auch mal völlig wagemutig irgendwo hinzubegeben, wo man denkt: Oh mein Gott, ich mache mich zum Affen.

Interview: Alexandra Tönies, Foto: Michael Schrodt

Johanna Schall ist 61 Jahre alt und geboren in Berlin, wo sie auch 1980 ihre Schauspielausbildung begann. Nach Fest-Engagements am Kleist-Theater Frankfurt/Oder und dem Deutschen Theater Berlin arbeitet sie seit 1993 als Regisseurin. Je nach Stück ist sie weiterhin als Schauspielerin aktiv (zuletzt „Hase Hase“) sowie Gastdozentin an verschiedenen Schauspielschulen.

Die Tage der Commune,
Schauspiel nach Bertold Brecht; Regie: Johanna Schall

ab 08.11. | Stadttheater, Konzilstraße 11, D-78462 Konstanz | +49 (0)7531 900 150 | www.theaterkonstanz.de