Seit der Zeit Gorbatschows spricht man vom Gemeinsamen Haus Europa. Aber gibt es eine europäische Architektur? Natürlich nicht, denn zur Identität Europas gehört die Vielfalt – Europa ist bunt und die europäischen Architekturen und Stile haben sich in den letzten zwei Jahrtausenden gegenseitig beeinflusst und befruchtet.

Zur Ausbreitung der Stile kam es nicht nur durch Eroberer wie die Römer, sondern auch durch die Handwerker, Baumeister und Architekten, die von einem Land ins andere gezogen sind, um Neues zu lernen – wie es auch heute noch die Zimmerleute tun.

In der Kulturlandschaft um den Bodensee sind Baudenkmäler aus allen Jahrhunderten seit der Römerzeit zu finden, mit allen Baustilen der europäischen Baukultur. Nur wenige davon sind aber in Mitteleuropa entstanden, die meisten sind aus unseren südlichen und westlichen Nachbarländern importiert: Die Römer haben die ersten Steinbauten errichtet, von denen vor allem an der Südseite des Bodensees noch einige zu sehen sind, von Stein am Rhein bis Bregenz. Etwas vereinfacht lässt es sich so zusammenfassen: Aus Italien kam die Romanik, aus Frankreich die Gotik, aus Italien dann wieder die Renaissance und der Barock. Gerade hier im Bereich der Oberschwäbischen Barockstraße, die sich auch bis in die Schweiz fortsetzt, hält man diesen Stil gerne für eine süddeutsche Entwicklung, aber „erfunden“ haben ihn die Italiener. Die Franzosen waren dann wieder mit ihren Schlössern das Vorbild für die Paläste süddeutscher Fürsten. Wer die europäische Baukultur in einem Gebäude zusammengefasst sehen will, besucht am besten das Konstanzer Münster, denn bei diesem hat seit dem Baubeginn im 10. Jahrhundert fast jedes Jahrhundert seine Spuren hinterlassen, mit den genannten importierten Stilen.

Bei der modernen und zeitgenössischen Architektur sind die Einflüsse vielfältiger, und sie sind rund um den Bodensee mit den verschiedensten Beispielen sichtbar – wenn man genauer hinschaut.
Bei der ursprünglichen Moderne ist auf deutscher Seite meistens vom Bauhaus-Stil die Rede, bei den Schweizern eher vom „Neuen Bauen“, gemeint ist aber das Gleiche: der internationale Stil, der sich durch einfache, klare Formen ohne weitere Verzierungen auszeichnet. Die Wegbereiter der modernen Architektur waren aber schon vor dem Ersten Weltkrieg die Wiener Otto Wagner und Adolf Loos.

Die Ideen des Bauhauses konnten erst in der Nachkriegszeit auf der deutschen Seite umgesetzt werden, im Raum Konstanz durch Hermann Blomeier. Die von ihm entworfene Kreuzkirche in Allmannsdorf mit dem schlanken, freistehenden Kampanile ist aber weniger durch das Bauhaus, sondern eher durch die spätantiken Kirchen in Ravenna (Norditalien) inspiriert.               

Auf Schweizer Seite waren eher die Schüler von Le Corbusier tätig, der seine größten Werke in Frankreich realisiert hat. Einer dieser Schüler war Georges-Pierre Dubois, der in den Jahren 1937 – 1940 im Büro des weltberühmten Architekten gearbeitet hatte. Von Dubois sind in Arbon mehrere Bauten für die Saurer Werke entworfen worden, z.B. der Wohnblock Unter-Neusätz, der wie eine verkleinerte Kopie der großen „Unités d’habitation“ (die erste in Marseille, 1952) von Le Corbusier wirkt.

Aus dem europäischen Süden kommen aber auch Moden, die an die Grenzen des guten Geschmacks gehen, wie der pseudo-toskanische Stil, der etwa bei kleinen Siedlungen in Rielasingen und in Münsterlingen-Landschlacht zu sehen ist. Damit werden offensichtlich die Italien-Sehnsüchte von Bauherren bedient, die man vom Milieu her zur „Toskana-Fraktion“ zählen könnte. Dabei ist der Stil mit eher flachgeneigten Dächern mit Mönch-und-Nonne-Ziegeldeckung (halbrunde Ziegel, abwechselnd nach unten und oben gelegt) gar nicht spezifisch toskanisch, sondern in den Mittelmeerländern weit verbreitet – in Frankreich ist die Grenze gut zu erkennen, wenn man in den Midi (früher „Okzitanien“) fährt.

Auch wer sich bei spanischer Architektur wenig auskennt, wird die Kirche Sagrada Familia in Barcelona schon einmal gesehen haben, zumindest auf Bildern. Das ist stilistisch ein spezieller Fall, und man muss auch nicht so weit fahren, um Werke von spanischen Architekten zu sehen. In der Ostschweiz sind zwei ganz unterschiedliche Vertreter des Landes tätig: Santiago Calatrava (* 1951) ist international vor allem durch seine Brücken und Bahnhöfe bekannt, in St. Gallen sind von ihm zwei kleinere, aber auch auffällige öffentliche Bauten aus den 90er-Jahren zu sehen: der Eingang zum Pfalzkeller und die Buswartehalle am Marktplatz. Eine halbe Generation jünger ist Carlos Martinez (* 1967), der zuerst durch preiswerte Wohnanlagen (mit programmatischen Namen wie Prosa und Sparta) bekannt geworden ist, seit 2005 aber vor allem durch die Stadtlounge, den Roten Platz um die Raiffeisen Bank in St. Gallen. 

www.calatrava.com | www.carlosmartinez.ch

Zwischen den Wassern gebaut                                                 

Die Europäische Wasserscheide verbindet den Bodenseeraum bekanntlich mit der Straße von Gibraltar auf der einen Seite und dem Ural auf der anderen, indem sie die Flusssysteme Europas zwischen dem Mittelmeer und dem Atlantik trennt. Wer auf dieser Linie wandert (oder mit dem Rad fährt), kann sich schöne Gedanken über Europa machen – und in Gebäuden einkehren, die architektonisch erwähnenswert sind, wie das Berggasthaus auf dem Höchsten und die Galluskapelle bei Leutkirch.