Hach ja, im sonnenuntergangverklärten Rückblick leuchtet das Früher golden, während der morgige (All)Tag eher grau heraufzieht. Typischer Fall von kollektiver Erinnerungsverfälschung.
Erinnerungsverfälschung bedeutet dabei das „unabsichtliche Verfälschen bestehender eigener Gedächtnisinhalte“. Das was manche Ewiggestrigen kollektiv anstreben, gehört dagegen eher ins Manipulative oder gar Krankhafte, in jedem Falle aber ins (Haken)Kreuzdämliche.
Im romantisierenden Rückblick, der meist mit dem Stoßseufzer endet „früher war ja alles so viel besser!“, ist der Historomantiker sicher, die Erinnerung sei wirklich (!) so. Das unterscheidet diese Menschen übrigens von den bewusst Falschaussagenden, im Volksmund genannt: Lügner.
Falsche Erinnerung oder fantasierende Einbildung sind somit Selbsttäuschungen und seit über 100 Jahren Gegenstand psychologischer, in neuerer Zeit zunehmend auch neurophysiologischer Forschung. In der Psychiatrie und vor Gericht ist der feine Unterschied von „Schein“ und „Sein“ übrigens durchaus bedeutsam. Im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang dagegen nur bei massenhaftem Auftreten. Im Einzelfall maximal nervtötend.
Zu Ende gedacht, wird die Historomantisierung schnell schal. Ich kann ja sogar verstehen, dass sich viele in die Zeit vor drei Jahren zurücksehnen, also vor Corona auch noch vor das postfaktische Zeitalter (Stichwort „Lügner“). Aber auf dem Mittelaltermarkt in holzofenfrisches Brot zu beißen und zu meinen, das habe etwas mit „der guten alten Zeit zu tun“ ist belustigend. Erstens ist der „Holzofen“ selten ein richtiger Holzofen, sondern modern gasbefeuert und zwecks Show- und Geschmacksverstärkung ein wenig Buche mitverkohlt, und – das ist auch gut so! – übrigens immer aktueller Gesetzgebung hinsichtlich der Hygiene, Explosions-, Verletzungs- und sonstiger Gefahren unterliegend. Und zweitens ist im Mittelalter mangels Lebensmittelverordnung so mancher beim Genuss von ach so authentischem Backwerk verendet, da in den Backstuben so manches mitverrührt wurde, was nur nach Mehl aussah. Heutzutage ist der – übrigens legitim in Massenbackwerken und gerne auch Bäkobackmischungen – beigefügte Gips wenigstens chemisch rein und nicht grad vom Lehmputz des Nachbarhauses abgekratzt. Abkratzen – das passende Stichwort. Zu Ende gedacht ist also „je früher je besser“ offensichtlicher Quatsch. Wenn heutzutage gerade Menschen, mit gefühlten oder echten Allergien, das früher so Reine beschwören, ist das belustigend, weil das Kleingedruckte der Allergene schon in den 50ern doch seeehr kleingehalten wurde.
Wir können dieses Thema eigentlich bei allen Themen zu Ende denken: Wann war die Medizin besser? Wann das Kulturangebot vielfältiger? Wann die Region interessanter?
Und grad heute, grad jetzt sollten wir Dinge wirklich zu Ende denken, aber nach vorne.