Was für ein Weg, den Verena Bentele geht, ohne ihn je gesehen zu haben! Als Top-Athletin des deutschen Sports hat sie alles erreicht, was sich die frühere Biathletin und Skilangläuferin erträumen konnte. Verena Bentele, von Geburt an blind, ist die erfolgreichste deutsche Behindertensportlerin aller Zeiten. Vier Jahre lang war sie die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen. Seit Mai 2018 leitet sie als Präsidentin den größten deutschen Sozialverband VdK.
Verena Bentele kam 1982 in Lindau zur Welt. Aufgrund eines genetischen Defekts ist sie von Geburt an sehbehindert, kann nur zwischen Hell und Dunkel unterscheiden. Ihre Kindheit in Wellmutsweiler, einem Sechshäuserdorf bei Tettnang, auf dem Demeter-Bio-Bauernhof ihrer Eltern Monika und Peter habe die spätere Spitzensportlerin stark gemacht. Zwischen Äpfeln und Hopfen tobte sie sich aus, packte mit an, übernahm Verantwortung, wurde selbständig und selbstbewusst. „Ich habe großartige Eltern, die uns Kindern viel zugetraut haben“, sagt sie. Im Sommer war die Familie zum Wandern in den Alpen unterwegs, im Winter machte sie Alpinskiausflüge. Mit drei Jahren stand Verena Bentele erstmals auf Alpinskiern. Mit ihren älteren Brüdern Johannes und Michael (ebenfalls blind) fuhr sie Tandem und Rollschuhe, kletterte auf Bäume und über Dächer. Frei nach dem Motto: „Man sollte alles ausprobieren und geht nicht gibt’s nicht!“ Dass ihr sehender Bruder schneller war, entfachte ihren Wettkampfgeist. So lernte sie auf dem Bauernhof ihre Grenzen zu erkennen und zu erweitern und Vertrauen in andere Menschen zu haben: Ohne Begleitläufer, die sie bis zu 70 Stundenkilometer schnell durch die Loipen geführt haben, wäre sie nie zum Superstar des Behindertensports aufgestiegen, sagt sie selbst.
Goldmedaillen und Einserstudium
Mit sieben Jahren kam Verena Bentele zum Judo, mit neun zum Reiten, mit zehn Jahren begann sie mit dem Langlaufen, bald darauf mit Biathlon. Mit 15 war sie Europameisterin, mit 16 gewann sie ihre erste Goldmedaille bei den Paralympics – 1998 in Nagano. Allein fünf Goldmedaillen errang sie bei den Paralympics 2010 in Vancouver. Ab 2006 hielt sie Vorträge über Motivation, Vertrauen, Kommunikation und Leistungsdruck und hat sich als Expertin für Personalentwicklung, Coachin und Top Speakerin etabliert. 2011 schloss sie ihr Studium mit der Note „sehr gut“ ab – Neuere deutsche Literatur mit den Nebenfächern Sprachwissenschaften und Pädagogik. Um im Beruf Fuß zu fassen, beendete sie Ende 2011 ihre sportliche Karriere und ließ sich zum systemischen Coach ausbilden.Bereits vor Ende ihrer sportlichen Karriere begann sie, sich auf hoher Ebene sozialpolitisch zu engagieren.
Von der Spitzensportlerin zur Präsidentin
2013 bestieg sie den Kilimandscharo (5895 Meter), den höchsten Berg Afrikas, und als erster blinder Mensch auch den Mont Meru (4562 Meter), einen Vulkangipfel. Außerdem bestritt sie 2013 und 2014 den 540 Kilometer langen Radmarathon Trondheim-Oslo. Bis heute ist der Sport fester Bestandteil ihres Lebens. Ab und zu stelle sie sich schon die Frage: „Warum tust du dir das an?“ Aber die Antwort sei dann doch wieder ganz einfach: „Weil es toll ist, sein Ziel zu erreichen.“ Das schaffe neue Energie für noch größere Aufgaben und Herausforderungen – im Sport und im Job. 2014 wurde sie schließlich zur Behindertenbeauftragten der Bundesregierung berufen. Das war ein weiterer wichtiger Meilenstein, weil sie in diesem Amt viel Einfluss auf die Belange behinderter Menschen nahm. 2018 gab sie es weiter, weil sie zur Präsidentin des VdKs gewählt wurde, der 1946 zur Beratung der Kriegsgeschädigten, Witwen und Waisen gegründet wurde. Im August 2022 war Verena Bentele in dieser Funktion zu Gast bei Frank Plasberg in der ARD-Talkshow „hart aber fair“, in der sie unmissverständlich klarmachte: „Wenn wir nicht wollen, dass sich in unserer Gesellschaft viele Menschen abgehängt fühlen, ist es jetzt Zeit, über die Verteilung von Reichtum und die Transparenz politischer Entscheidungen zu reden.“
Fakten
- 2011 Wahl zur Weltbehindertensportlerin
- 2013 Besteigung des Kilimandscharo
- 2013 Veröffentlichung des ersten Buches: „Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser“
- 2014 Berufung zur Behindertenbeauftragten der Bundesregierung. Sie war die erste Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, die selbst ein Handicap hat.
- 2014 Aufnahme in die paralympische Hall of Fame
- 2016 400-Kilometer Radmarathon vom Bodensee ins Burgund
- 2017 Mitglied des Hochschulrates der Deutschen Sporthochschule Köln
- 2018 Wahl zur Präsidentin des VdK
- 2018 Jahrhundertsportlerin in der Kategorie „Jetzt erst recht“
- 2020 Aufnahme in die „Hall of Fame des deutschen Sports“
- 2021 Wahl zur Vizepräsidentin im Präsidium des Deutschen Olympischen Sportbundes
- 2021 Veröffentlichung des zweiten Buches „Wir denken neu“
- Botschafterin der Christoffel-Blindenmission Deutschland e.V. (CBM)
- Verena Bentele ist Botschafterin des Vereins Athletes for Ukraine
Text: Susi Donner
Beitragsbild: (c) Susie Knoll