Die Werke der surrealistischen Malerin und Objektkünstlerin Eva Wipf gehören zu den außergewöhnlichsten Phänomenen der Schweizer Kunstgeschichte. Doch wie so viele ihrer Zeitgenossinnen fand die eigenwillige Künstlerin in der männlich dominierten Kunstwelt zeit ihres Lebens zu wenig Anerkennung für ihr Schaffen. Nun widmet das Kunstmuseum Thurgau der unterschätzten Künstlerin ein Buch und ab 23. Juni eine umfassende Einzelausstellung: „Eva Wipf – Seismograf in Nacht und Licht“.
Ich möchte immer Seismograf sein, in Nacht und Licht, auch wenn ich einmal zerbrechen müsste.
Eva Wipf
Bis heute berühren die Objektassemblagen, in denen Eva Wipf die Brüche und Abgründe der Nachkriegszeit und damit ihrer Generation übersetzte. Der Weg dorthin führte sie durch eine existenzielle künstlerische Suche vom altmeisterlichen Tafelbild über visionäre Collagen und berührende Fotografien bis hin zu ihren aus Fund- und Flohmarktobjekten zusammengesetzten Plastiken. Eva Wipf zweifelte bis zuletzt an sich, hielt aber dennoch immer an ihrem Werk fest. Der Zweite Weltkrieg war gerade mal vier Jahre vorbei, als die 20-jährige Eva Wipf notierte: „Ich möchte immer Seismograf sein, in Nacht und Licht, auch wenn ich einmal zerbrechen müsste.“ Doch seismografisch feine Linien reichten nicht aus, ihre großen Assemblagen – Collagen mit plastischen Objekten –sind schonungslose Zeichen der Auflehnung gegen gesellschaftliche Normen und Konventionen.
Schau eines bewegten Lebens
Im Rahmen eines mehrjährigen Forschungsprojekts wurden die Aufzeichnungen von Eva Wipf gesichtet und ihr Werk in die Zeit und den kunsthistorischen Kontext eingeordnet. Die umfassende Retrospektive im Kunstmuseum Thurgau präsentiert neben vielen Werken von Eva Wipf auch Tagebuchaufzeichnungen, Bezüge zu internationalen Positionen sowie Werke von Weggefährt*innen aus der damaligen Künstlerszene, wie der Künstlerkolonie Südstraße in Zürich. Neben den Werken von Eva Wipf sind auch Arbeiten von Mario Comensoli, Hanny Fries, Vergita Gianini, Friedrich Kuhn, Samuel Lier, Secondo Püschel und Carlotta Stocker zu sehen.
Zerrissenes Seelenleben und große Kunst
Zur Ausstellung gibt das Kunstmuseum Thurgau gemeinsam mit dem Eva Wipf Museum in Pfäffikon eine reich bebilderte Publikation heraus. Das Herz dieser Monografie bilden die erstmals ausführlich publizierten Tagebuchtexte von Eva Wipf. Die Texte zeichnen ein zerrissenes Seelenleben nach, bieten aber auch ein Bild der Schweizer Gesellschaft der 1950er- bis 1970er-Jahre. Wipfs Leben in und mit der jungen Kunstszene der Nachkriegszeit, insbesondere in der Künstlerkolonie Südstraße in Zürich, wird anhand ihrer Notizen greifbar. Der Band wird abgerundet durch ein ausführliches Personenglossar, das die wichtigen und prägenden Menschen aus dem Umfeld der Künstlerin porträtiert. (Herausgegeben von Stefanie Hoch und Felix Pfister, mit Texten von Stefanie Hoch, Christian Michelsen und Felix Pfister und über 100 farbige Abbildungen auf 208 Seiten. Grafik: Nadine Rinderer, Frauenfeld, Verlag Scheidegger & Spiess)
23.06.–19.12. | „Eva Wipf – Seismograf in Nacht und Licht“
23.06., 11.45 Uhr | Vernissage
Kunstmuseum Thurgau
Kartause Ittingen
CH-8532 Warth
www.kunstmuseum.tg.ch
Begleitende Veranstaltungen
09.07., 18 Uhr | Wandel und Wandeln in Paradiesgärten
Rundgang mit Ethnobotanikerin Maja dal Cero und Kuratorin Stefanie Hoch
19.09., 19 Uhr | Musik zur Kunst
Christian Michelsen, Moritaten-Gesang und Curdin Janett, Handorgel
24.10., 19 Uhr | Aleida Assmann
Vorstellung des Buches „Jan und Aleida Assmann: Gemeinsinn. Der sechste, soziale Sinn“
28.07., 15.09., 10.11., jeweils 15 Uhr | Öffentliche Sonntagsführungen in der Ausstellung
30.10., 14–16 Uhr | Kinderworkshop: Eva Wipf. Das Glück im Hosensack – Amulette und andere Glücksbringer mit Franziska Hinderer, Kunstvermittlerin
19.11., 19–21 Uhr + Mittwoch, 21.11., 14–16 Uhr | Frauen-Kunst-Club
Anmeldung erforderlich: sekretariat@kunstmuseum.ch
Mehr auf www.kunstmuseum.tg.ch
Biografie Eva Wipf
1929 wurde Eva Wipf in Santo Ângelo do Paraíso in Brasilien als ältestes von sieben Kindern des Missionsehepaares Frieda und Johannes Wipf geboren. 1934 kehrte die Familie in die Schweiz zurück und bezog das Pfarrhaus in Buch im Kanton Schaffhausen. 1946 begann Eva Wipf eine Lehre als Keramikmalerin in der Tonwarenfabrik Ziegler in Thayngen. Zur selben Zeit fing sie an, autodidaktisch erste Natur- und Landschaftsstudien zu malen. 1947 gab es eine erste Schaufensterausstellungen am Bahnhofplatz Schaffhausen. Weitere Einzelausstellungen wie in der Galerie Forum Schaffhausen, im Casino Winterthur und im Club 49 in Konstanz folgten. 1949 bis 1952 unternahm sie mehrere Studienreisen ins Ausland, nach Florenz, Amsterdam, München und Paris. Zwischen 1953 und 1966 war Eva Wipf Teil der Künstlerkolonie Südstraße in Zürich. Mehrmals bekam sie Stipendien der Stadt Zürich und nahm an Gruppenausstellungen teil, wie 1965 an der Ausstellung im Strauhof Zürich mit Vergita Gianini. 1966 zog Eva Wipf ins Fischerhaus in Merenschwand im Freiamt, Kanton Aargau zu ihrer Freundin und Mäzenin Mariann Werner. Ab dieser Zeit bestimmten Assemblagen ihr künstlerisches Schaffen. 1968 hatte sie eine Einzelausstellung mit Publikation im Wessenberghaus in Konstanz. 1968 und 1969 bekam sie ein Stipendium des Kantons Zürich, ihre Werke waren immer wieder in Einzel- und Gruppenausstellungen zu sehen. 1973 ermöglichte ihr ein Gönner, das Haus an der Falkengasse 11 in Brugg, Kanton Aargau zu beziehen. 1975 erhielt sie ein Werkjahr des Kantons Aargau. 1977 gab es eine Einzelausstellung im österreichischen Graz. Im Juni 1978 reiste sie nach Indien. 1978 brach Eva Wipf in Brugg tot zusammen, stirbt an Herzversagen.
Beitragsbild: Eva Wipf, Landschaft mit thronendem Christus, 1958, Collage, 70 x 100 cm, Kunstverein Museum Eva Wipf, RC 921