A – Alberschwende | Hermann Gmeiner hat als Kind einen großen Verlust erlitten – und als Erwachsener eine Vision verfolgt, die sich zu einem weltweiten humanitären Netzwerk entwickeln sollte: Er gründete vor 70 Jahren die SOS-Kinderdörfer. Am 23. Juni würde er 100 Jahre alt werden.
Der Bergbauernsohn aus Alberschwende in Vorarlberg war sechs Jahre alt, als er den Tod seiner Mutter erleben musste. Er wuchs mit seinen acht Geschwistern als Halbwaise auf; die älteste Schwester Elsa übernahm die mütterlichen Aufgaben im Haus. Ein Stipendium ermöglichte ihm den Besuch des Gymnasiums in Feldkirch. Nach dem Krieg begann er im Herbst 1946 in Innsbruck Medizin zu studieren. Er wurde zudem Leiter der Dekanatsjugend Innsbruck und begegnete vielen Kriegswaisen. Ihr Schicksal erschütterte ihn – auch wegen seiner eigenen Kindheitserfahrungen. Es kann, so dachte sich Gmeiner, doch nicht angehen, dass all diese Kinder in Waisenhäusern landen. „Es muss einen Weg geben, diese Kinder wieder hereinzuholen in die Gesellschaft, dieses Kind zu einem unsrigen zu machen“, sagte er einmal.
Der Weg, den Hermann Gmeiner einschlug, war für die damalige Zeit geradezu revolutionär. Waisenkinder wurden damals in Massenunterkünften untergebracht, die eher Gefängnissen glichen und abschätzig „Erziehungskasernen“ genannt wurden. Die Kinder litten unter Lieblosigkeit und brutaler Härte. Gmeiner setzte die Idee von familienähnlichen Einrichtungen mit einer kontinuierlichen Bezugsperson dagegen. Jedes verlassene, Not leidende Kind sollte wieder eine (Kinderdorf-)Mutter haben, mit Geschwistern aufwachsen und mit ihnen in einem Haus leben, das zu einem kleinen Dorf mit weiteren Familienhäusern gehört. „Und von diesem Dorf gehen sie dann hinaus in die große Welt“, beschrieb er seine Vision. Vorbild war übrigens das „Kinderdorf Pestalozzi“, das bereits 1944 bis 1946 hauptsächlich für Kriegswaisen in der Schweizer Gemeinde Trogen AR entstanden war. Und 1947 wurde bei Stockach das „Pestalozzi Kinder- und Jugenddorf Wahlwies“ gegründet – als erstes Kinderdorf in Deutschland.
Von Imst in alle Welt
Am 25. April 1949 gründete Hermann Gmeiner mit einem Kreis junger Frauen und Männer in Innsbruck den Verein „Societas Sociales“ (Soziale Gemeinschaft), der später in den Verein SOS-Kinderdorf umgewandelt wurde. Für den Start hatte Gmeiner persönlich nur 600 Schilling zur Verfügung. In der Tiroler Gemeinde Imst konnte er nach langer Suche ein Grundstück für das erste SOS-Kinderdorf kaufen. Die finanzielle Basis dafür stellte Mitstreiterin Maria Hofer mit dem Erlös eines Grundstückes in Igls (ca. 50.000 Schilling) zur Verfügung. 1951 konnten die ersten 40 Kriegswaisen im ersten Familienhaus aufgenommen werden. Es folgten weitere Häuser – bald auch jenseits der Landesgrenzen: Das erste SOS-Kinderdorf in Deutschland wurde 1956 in Dießen am Ammersee gebaut, 1963 entstanden erste SOS-Kinderdörfer in Asien und Lateinamerika.
„Alle Wunder dieser Welt entstehen dadurch, dass einer mehr tut, als er tun muss.“
Hermann Gmeiner
Hermann Gmeiner starb am 26. April 1986 im Alter von 65 Jahren in Innsbruck. Bis heute umgibt den charismatischen Kinderdorf-Gründer ein Mythos, der ihn – wie Kritiker bisweilen anmerken – jahrelang zum ruhmreichen Übervater hochstilisierte, während Frauen auf ihre Mütterrolle festgelegt wurden. Aufsehen erregte 2014 eine Studie, die nachwies, dass es in der Gründerphase in SOS-Kinderdörfern auch Gewalt und Missbrauch gegeben habe. Die SOS-Leitung selbst hatte die Studie in Auftrag gegeben, um eine Aufarbeitung zu ermöglichen.
Hilfe für 1,5 Millionen Menschen
Über allem steht das große Ziel, die Welt ein bisschen besser zu machen. Auch nach Gmeiners Tod wird sein Lebenswerk fortgesetzt und weiterentwickelt. Noch zu Lebzeiten hat er 1985 den Chefposten an Helmut Kutin abgegeben, der selbst ein SOS-Kind aus dem ersten SOS-Kinderdorf in Imst war. 2012 wurde der Inder Siddharta Kaul zum neuen Präsidenten gewählt. Heute betreibt die SOS-Hilfsorganisation 572 Kinderdörfer, 744 Jugendbetreuungsprogramme, 237 Kindergärten, 786 Sozialzentren und Programme für Familienhilfe, 70 medizinische Zentren, 38 Nothilfeprogramme, 185 Hermann-Gmeiner-Schulen und 104 Berufsausbildungszentren. Insgesamt unterstützt dieses Kinderhilfswerk nach eigenen Angaben weltweit rund 1,5 Millionen Kinder und Erwachsene. In der Bodenseeregion gibt es zwar kein traditionelles SOS-Kinderdorf, jedoch Wohngruppen für Jugendliche in Bregenz und Dornbirn.
Eine solche Organisation kann natürlich nur dann erfolgreich Hilfe leisten, wenn sie zahlreiche Förderer hat. „Es gibt viele Möglichkeiten, sich zu engagieren, zum Beispiel mit Einzelspenden oder mit Patenschaften“, erklärt Hermann Kley aus Konstanz, der sich als ehrenamtlicher Berater für die SOS-Kinderdörfer einsetzt. Denn er und seine Frau seien, wie er sagt, in intakten Familien mit mehreren Geschwistern aufgewachsen und in der Gesellschaft ordentlich vorangekommen. „Wir wollen etwas zurückgeben von dem, was wir erreichen konnten“, sagt Kley, der sich in vielerlei Hinsicht sozial engagiert. Bei den SOS-Kinderdörfern sei er vom Sinn, von der Notwendigkeit und vom Konzept überzeugt.
Text: Ruth Eberhardt