Im August hatten wir bei den Architektur-Rekorden das angeblich „schmalste Haus Europas“ in Bregenz, was aber buchstäblich nur vordergründig gestimmt hat, denn nach hinten wird es immer breiter. Seit einigen Jahren geht ein Trend durch die Medien, der das Haus auf eine Minimalgröße reduzieren will: das sogenannte „Tiny House“. Ist das ein Modell für die Bodensee-Region – oder überhaupt für dicht besiedelte Landschaften?

Trend oder Hype?

Wie viele andere Trends und Moden kommen diese Winzighäuser aus den USA, einem Land großer Gegensätze, in dem entweder mit Hochhäusern und Wolkenkratzern weit in die Höhe gebaut wird oder auf dem Land endlos viel Platz ist, um Einfamilienhäuser auf große Grundstücke zu bauen, wenn man es auf die Extreme reduziert. Die Idee der Tiny houses ist in den eher dünn besiedelten Gegenden entstanden, wo eher jüngere, „alternative“ Leute eine räumlich minimalistische Lebensform gesucht haben.

Siedlungshäuser der 30er Jahre (hier im Konstanzer Haidelmoos) waren damals für Familien mit Kindern geplant | © Patrick Brauns

Ein Blick in die Geschichte zeigt, wie relativ der Begriff „kleine Häuser“ ist: Häuser mit einer Wohnfläche von 50 bis 60 Quadratmetern wurden ursprünglich in den Arbeitersiedlungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gebaut, und sie sind heute noch rund um den See zu sehen, in Schaffhausen, Singen, Konstanz, Friedrichshafen, Bregenz, Arbon und anderen Städten. Das reichte damals für eine ganze Familie – heute ist die durchschnittliche Wohnfläche pro Person fast so groß. Die kleinen Arbeiterhäuser waren meistens als Reihenhäuser nebeneinander gebaut, sodass hinter dem Haus noch ein schmaler Gemüsegarten angelegt werden konnte.

Die heutigen Tiny houses sind in der Regel so gebaut, dass sie auf allen vier Seiten Fenster haben, sie können also nicht wie Reihenhäuser nebeneinandergestellt werden, sondern brauchen ein Grundstück, auf dem sie frei stehen können. Von den Firmen, die inzwischen solche Häuser anbieten, wird eine Fläche von mindestens 200 Quadratmetern verlangt.
Wenn sich manche – wie kürzlich ein Paar aus Heiligenberg in der Schwäbischen Zeitung – beklagen, dass sie keine Baugenehmigung für so ein Minihaus bekämen, ist das weniger eine grundsätzliche Ablehnung, sondern eher der Bebauungsplan, in den ein Haus mit diesem Platzbedarf nicht passt. Auch die Tettnanger Firma exakt Messebau versucht, von diesem Trend (oder Hype) zu profitieren. Sie baute einen Prototypen in der Form eines Bauwagens, bekam dafür zahlreiche Anfragen, aber konnte noch kein Haus verkaufen. 

Kurz zusammengefasst: Wo der Wohnraum und die Bauplätze knapp sind, passen sie vom Platzbedarf her nicht hin – und wo beides reichlich vorhanden ist, will kaum jemand auf so wenig Fläche wohnen.

Tiny house als Modell?

Von den Tiny houses können wir aber einiges lernen: Auch bei der bewohnten Fläche ist der Minimalismus nachhaltiger als die Verschwendung. Weil in einem Tiny house nicht jeder alles unterbringen kann, ergibt es sich oft, dass etwa Werkzeuge gegenseitig ausgeliehen werden – das geht auch bei anderen Wohnformen, wenn man es will. Wo platzsparend gewohnt wird, kann auch platzsparend gebaut und geplant werden. Da die Wohnflächen nicht unbegrenzt erweitert werden können, müsste das alle Gesellschaftsschichten betreffen. Sonst wäre es eine Rückentwicklung zu den Zuständen im 19. Jahrhundert, mit finanziell schwachen Familien im Tiny house und wohlhabenden Singles oder Paaren mit dem Luxus des Raumes. Ein eher zukunftsorientiertes Potenzial sind Gewerbe- und Bürogebäude, die zu flexibel nutzbaren Wohngebäuden umgebaut werden, aber das wäre ein anderes Thema – vielleicht demnächst hier.

www.exakt-messebau.de
www.tiny-bodensee.de

Seerauminfos

Infinity Zuerich 8.2021 | © Hector Egger Holzbau AG

Endlose Treppe: Nachdem in dieser Rubrik schon ein paarmal Treppen zu sehen waren, auf denen man nur aufsteigen, aber nirgends ankommen kann, kann bis Ende Oktober in Zürich die Treppen-Skulptur „Infinity“ besucht werden. Im Rahmen der Design Biennale steht sie im Alten Botanischen Garten, und ihrem Namen entsprechend bietet sie endloses Treppensteigen.
www.hector-egger.ch | www.hector-egger.ch/infinity 

Text + Fotos: Patrick Brauns

Beitragsbild: Im Schatten des früheren Jesuitenkollegs in Konstanz wirkt der barocke Pavillon (1780) noch kleiner | © Patrick Brauns