Klassische Konzerte laufen nach Regeln ab, die nur Insidern vertraut sind. Noah Vinzens bricht dort, wo das nötig ist, mit vermeintlich ehernen Regeln. Er möchte den Konzertbetrieb der Klassik auf den Stand unserer Zeit bringen. Sein Ziel sind Konzerte, die als einzigartige Erlebnisse im Gedächtnis bleiben.
Vom Pianisten zum Kulturmanager
Der 1990 geborene Deutsch-Schweizer lebt in Friedrichshafen. Nach dem Abschluss des Klavierstudiums mit Bestnote an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover begann er an der Zeppelin-Universität sein zweites Masterstudium „Pioneering in Arts, Media and the Creative Industries“ und schloss 2021 mit Bestnote ab. Schon früh war er als klassischer Pianist sehr gefragt. Trotzdem hat er diese Laufbahn aufgegeben – wegen zu vieler Erfahrungen, mit denen er sich nicht arrangieren wollte. „Auf die Bühne, spielen, wieder runter, nächstes Konzert“ – in diesen Verschleißbetrieb, der Musiker oft nur noch als Produkt betrachtet, wollte er sich nicht eingliedern. „Ich wollte nicht mehr für Leute arbeiten, sondern mit Leuten“, erklärt er. Gerade um Künstler bleiben zu können und nicht zum Dienstleister am Klavier zu mutieren, der diktierte Erwartungen zu erfüllen hat, wurde Noah Vinzens Kulturmanager. Seit 2018 ist er künstlerischer Leiter des H.E. Steinway-Festivals in Wolfshagen. 2022 übernahm er außerdem die organisatorische Leitung des Internationalen Kammermusikfestivals Fliessen, und 2023 gründete er schließlich seine eigene Firma, die Kulturmanufaktur Noah Vinzens GmbH. Zuletzt übernahm er die organisatorische Ausgestaltung der Konzerte beim Festival „Montforter Zwischentöne“ in Feldkirch als Produktionsleiter.
Kleine Veränderungen, große Wirkung
In allen seinen Tätigkeiten arbeitet Noah Vinzens an der Veränderung des klassischen Konzertbetriebs. Beim Steinway-Festival verzichtet er bewusst auf die obligatorischen Programmzettel für die Besucher. Diese kleine Abweichung vom Gewohnten hat bei einem Pianisten für Panik gesorgt, erinnert sich Noah Vinzens. „Die Leute wissen also gar nicht, was ich spiele?“, habe der Pianist überrascht reagiert. „Es ist deine Bühne. Spiel, was du willst!“, entgegnete Vinzens. Und so lief dieses Konzert ganz entgegen den Konventionen ab. Der Pianist sagte seine Stücke an, anstatt wie sonst stumm zum Spiel überzugehen. „Er interagierte mit dem Publikum. Er fing die Stimmung der Leute auf und stimmte sein Programm darauf ab“, erzählt Noah Vinzens. „Er hat also ganz andere Stücke gespielt als die vorab festgelegten. Es war ein unfassbar intensives Konzert.“ Der Pianist wirkte wie befreit, das Publikum reagierte mit außerordentlichem Beifall. Das Konzert war zu einem ganz aus dem Augenblick entstandenen Ereignis geworden.
Eine lang vorab festgelegte Programmabfolge ist im Konzertbetrieb die Regel. „Und genau das habe ich als Pianist immer gehasst“, sagt Noah Vinzens. „Woher weiß denn ich, was ich in einem Jahr am Klavier zu erzählen haben werde. Für diese Freiheit bin ich doch gerade Künstler geworden!“ Die Möglichkeiten, die das Festival „Montforter Zwischentöne“ in Feldkirch bei seinen experimentellen Programmformaten zeigt, waren es auch, die ihn vor einem halben Jahr dazu bewogen haben, mit seiner Firma den Auftrag als Produktionsleiter dort anzunehmen.
Nähe entsteht durch Unmittelbarkeit
Er ist kein Umstürzler. Er möchte die Grenzen der Konzert-Konventionen nicht sprengen, sondern kreativ und sinnvoll mit den Gegebenheiten vor Ort arbeiten. Das Ziel sei nicht, „etwas Abgefahrenes“ zu machen. „Sondern ich frage mich: „Welche Parameter liegen vor? Was gibt mir der Raum, die Musik, das Publikum, die Akustik?“ Daraus die richtigen Schlüsse für das passende Konzert-Setting zu ziehen, erfordere viel Gespür, Erfahrung und auch Risikobereitschaft. „Aber sobald ein solches ungewöhnliches Konzertformat dann funktioniert, fragt niemand mehr nach den Regeln, die außer Kraft gesetzt wurden – weil niemand sie vermisst“, sagt der Kulturmanager.
Noah Vinzens bemisst den Erfolg eines Konzerts nicht an der Publikumsgröße. „Sonst wäre außer Helene Fischer und den Rolling Stones alles überflüssig.“ Nichts gegen die Großabsahner des Konzertgewerbes – „aber ich spiele lieber für fünf Leute, die ich wirklich erreiche, als für 10.000, denen egal ist, wie ich spiele.“ Er machte im Alter von 16 Jahren eine Schlüsselerfahrung. In Wiesbaden spielte er damals Werke von Chopin, vor 2000 Leuten, beim hessischen Unternehmertag. „Von außen betrachtet war das ein super Gig; gut bezahlt“, sagt Vinzens. „Aber ich bin mir noch nie so sehr wie ein Produkt vorgekommen. Es ging überhaupt nicht um die Musik, sondern um die Häppchen danach.“ Am Tag danach, ebenfalls in Wiesbaden, spielte er dasselbe Programm noch einmal. Aber in einem Pflegeheim, vor nur fünf alten Menschen in Rollstühlen. Eine Frau habe bitterlich zu weinen begonnen. Ganz durcheinander sprach er sie nach dem Konzert an. „Sie erzählte mir, dass ich die Musik gespielt habe, die sie als Kind durch die Flucht im Zweiten Weltkrieg begleitet hat.“ Die Erschütterung dieser Frau wog für Vinzens schwerer als die 2000 Honoratioren des Vortags.
Klassik ist cool, aber falsch verpackt
Er glaubt nicht an die konservative Einschätzung, dass das Publikum lieber bei den altbekannten Konzertformaten bleibt, anstatt sich auf Neues einzulassen – schon weil er feststellt, dass kaum junge Leute den Weg in den Konzertsaal finden. „Aber das liegt nicht am Inhalt. Klassik ist cool! Aber man merkt das oft nicht, weil sie falsch verpackt wird.“
www.noahvinzens.com
weitere Infos:
www.steinway-wolfshagen.com
www.fliessenfestival.de
www.montforterzwischentoene.at
Text: Von Harald Ruppert