Anya Schutzbach hat Anfang November die Leitung des Literaturhauses Wyborada in St. Gallen übernommen. Sie will es zu einer Institution für die ganze Ostschweiz weiterentwickeln.
akzent: Das Literaturhaus Wyborada hat einen feministischen Ursprung: Es wurde vor einem Jahr aus der seit 1986 bestehenden Frauenbibliothek und Fonothek Wyborada heraus gegründet. Bleibt das Literaturhaus dieser Tradition verpflichtet?
Schutzbach: Dieser feministische Ursprung hat eine spannende Vorgeschichte, die schon über 1000 Jahre alt ist. Die Gründerinnen des Vereins, dem das Literaturhaus angegliedert ist, folgten den Idealen der heiligen Wiborada. Sie lebte im 10. Jahrhundert als Einsiedlerin in einer Zelle. Dank ihrer Vorahnung konnten die Bibliotheksschätze des Klosters St. Gallen vor dem Überfall der Ungarn auf die Stadt im Jahr 926 rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden. 120 Jahre später wurde sie als erste Frau heiliggesprochen und gilt seither als Patronin der Bibliotheken und Bücher. Eine mutige, kluge, radikal-eigensinnige und selbstbewusste Frau also! Und dieser Tradition folge ich gern, sie geht weit über den eher politisch motivierten Feminismus der 70er-/80er-Jahre hinaus. Sie schließt niemanden aus, im Gegenteil.
akzent: Was kennzeichnet das Wesen des Literaturhauses Wyborada?
Schutzbach: Das Literaturhaus ist ein Ort für „Bookster“ aller Couleur, also für Menschen, die Bücher lieben, lesen, machen, darüber reden, streiten, sie schreiben, gestalten, verkaufen, mit ihnen leben. Wir bieten klassische und digitale Plattformen, Raum für Debatten, wollen Treffpunkt sein, planen eine Literatur-Bar, organisieren Literatur-Ausflüge. Über all das entsteht Begegnung und Austausch, rund ums Jahr.
akzent: Welche Aufgaben stehen jetzt konkret an?
Schutzbach: Im Moment sind wir ein „fliegendes Haus“, das an verschiedenen Orten der Stadt zu Gast ist. Mein Ziel ist es, einen festen Ort zu finden, das Literaturhaus bekannt und interessant zu machen und ihm eine stabile finanzielle Basis zu verschaffen, um nachhaltig und langfristig planen zu können.
akzent: Inwiefern hat die Bodenseeregion, speziell die Ostschweiz, das Potenzial für eine solche Institution?
Schutzbach: Von Oberschwaben und dem Allgäu über den Bodensee, Bregenz, Vorarlberg bis in den Thurgau und weiter nach Konstanz: St. Gallen liegt mitten in einer reichen Kulturlandschaft, nicht nur literarisch gesehen. Hier lassen sich viele Fäden spannen über alle Grenzen, quer durch die Sparten.
akzent: Die Kultur leidet sehr stark unter Corona. Welche Auswirkung hat die Pandemie speziell auf den Bereich Literatur?
Schutzbach: Wir in der Literatur haben Glück: Veranstaltungen im kleineren Rahmen sind – noch – möglich. Wir brauchen keinen exorbitanten technischen Aufwand, um auch viral präsent zu sein. Hybride Formate, also die Kombination von Video-Zuschaltungen und Life-Akteuren vor Ort, sowie immer professionellere Online-Formate sind erstaunlich rasch positiv aufgenommen worden.
akzent: Welche Art Bücher mögen Sie persönlich?
Schutzbach: Derzeit befasse ich mich mit Nahrung und Ernährung. Schon im Mittelalter war das ja ein Thema – Stichwort „Fasten“ oder die Heilkunde der Hildegard von Bingen. In dem Zusammenhang lese ich gerade „Fleisch ist mir nicht Wurst“ von Klaus Reichert – einem Metzgersohn, der lieber Journalist geworden ist. Ein ungeheuer lesenswertes Buch über ein altes Handwerk und die Wertschätzung unseres Essens – und gleichzeitig eine berührende Familiengeschichte.
Zur Person
Anya Schutzbach (57) stammt aus Billafingen, einem Dorf im Hinterland von Überlingen. Sie hat Japanologie, Sinologie und Neue Deutsche Literatur in Bonn, Frankfurt und Tokio studiert, als Übersetzerin und Dolmetscherin gearbeitet und war viele Jahre in leitender Position bei den Verlagen Suhrkamp und Insel tätig. Zuletzt war sie Verlegerin von weissbooks.w und Mitglied der Geschäftsleitung des Unionsverlags. Heute lebt sie in Zürich und wieder in der alten Heimat
Überlingen. Hier schätzt sie besonders die Schönheit und Sinnlichkeit der Landschaft – und das Gefühl, „zu Hause“ zu sein.
Interview von Ruth Eberhardt