Ästhetik des Zerfalls
Dahin gehen, wo andere weggingen, und vergessene Orte aufsuchen, die sich selbst überlassen wurden. Inmitten der heimeligen Idylle der malerischen Bodenseeregion finden sich auch geheimnisvolle oder gar unheimliche Orte, die sogenannten Lost Places.
Wer suchet, der findet: bei der Zeitungslektüre, der Recherche in Stadtarchiven, beim Check von Satellitenaufnahmen oder in zahlreichen Foren im Internet. Die Faszination und die Magie, die die Urban Explorer beim Entdecken verlassener Orte in den Bann ziehen, werden mit der Kamera festgehalten.
Morbiden Charme einfangen
Bereits aus den 1960er-Jahren kennt man Fotos aus stillgelegten Militär- und Industrieanlagen, von Geisterbahnhöfen, an denen längst kein Zug mehr hält, oder von Vergnügungsparks mit verrosteten Fahrgeschäften, die keinen Spaß versprechen, sondern Gruselstimmung verbreiten. Seit einigen Jahren begeben sich immer mehr Fotograf*innen auf die Spur von zerfallenen Gebäuden und Anlagen. Die Lost-Places-Fotografie ist weiterhin Trend, in Foren und Facebookgruppen sind verwitterte Villen, aufgegebene Hotels, Bauernhöfe, Fabriken oder Schulen zu sehen, die zum Teil seit Jahrzehnten leer stehen.
In der Bodenseeregion, die sie schon von Kindheitsausflügen kennt, hat sich Jasmin Seidel abseits der touristischen Pfade mit ihrer Kamera auf den Weg gemacht. Mit dem 2022 erschienenen Bildband „Lost Places am Bodensee“ bietet sie mehr als „ein imposantes Foto für die sozialen Netzwerke“. Seidel reizt es, mit detektivischem Spürsinn alten Geschichten nachzugehen und diese hautnah zu erleben. Im Vorfeld investiert sie viel Zeit, um herauszufinden, was hier früher einmal gewesen ist, und sucht Orte auf, an denen Menschen gelebt, gearbeitet, gefeiert und auch getrauert haben. Dass ihr das gut gelingt, belegt der Buchpreis „Wäldlerliebling“, den die in Waldkirch Geborene mit ihrem ersten Buch „Lost Places im Schwarzwald“ gewann. Oft noch in der Dämmerung zieht sie los, um bei der Entdeckung verlassener Orte Ruhe zu haben. Die Aufregung steigt, wenn sie einen Zugang findet: „Sind das Stativ und die Kamera aufgebaut, dann tauche ich ab in eine andere Welt, eine vergangene Welt, in eine Zeitkapsel, die sich öffnet, wenn ich einen verlassenen Ort betrete und entdecke.“
Erinnerungen an die Vergangenheit
In dem im Meßkirchner Gmeiner-Verlag erschienenen Bildband beschreibt Seidl, was sie über die Geschichte der Lost Places rund um den Bodensee herausgefunden hat, und zeigt auf vielen zum Teil schaurig-schönen Fotos Trostlosigkeit, morbiden Charme und nostalgische Momente: bröckelnden Putz, Moos auf eingestürzten Mauern, von Unkraut überwucherte Steinplatten, zersplitterte Fenster, feuchte Dielen, rostige Leitungen und von den Wänden blätternde Tapeten. Die Hobbyfotografin führt die Leser*innen durch verlassene Fabriken und Höfe. Weitere Lost Places, die sie gefunden hat, sind ein Schloss, ein Gasthaus, ein Kraftwerk, ein Bahnhof, ein Pastorenhaus oder ein verwildertes Waldbad bei Baienfurt – einst Heilbad, später öffentliches Bade-Idyll, dessen großes Becken und die gesamte Anlage mittlerweile zugewachsen sind. Bilder des Verfalls präsentiert sie auch von einem Schießstand, aus einem Krankenhaus oder aus der stillgelegten Papierfabrik Mochenwangen. Geradezu unheimlich wirken die Aufnahmen einer ihrer Touren zu einem alten Bauernhaus am westlichen Bodensee, in dem ein Familienleben unter einer dicken Staubschicht begraben liegt. Es scheint als hätten die Bewohner ihr Haus überstürzt verlassen, denn die Einrichtung und viel Inventar blieben zurück. Inzwischen haben neue Bewohner Einzug gehalten, davon zeugen dicke Spinnweben, tote Fliegen sowie Exkremente von Mäusen und Ratten.
Rücksicht und Achtsamkeit
Beim Urban Exploring spielen neben der Faszination des Entdeckens schaurig schöner Orte auch der Nervenkitzel beim Erkunden der dunklen Vergangenheit und ebenso der Reiz des Verbotenen eine Rolle. Wer verlassene Gebäude aufsucht, bewegt sich zum Teil in einer rechtlichen Grauzone, denn die meisten Lost Places haben einen Eigentümer – private Besitzer oder Gemeinden. Um keinen Hausfriedensbruch zu begehen, gilt es, erst abzuklären, ob man ins Gebäude oder aufs Gelände darf. So ist es Jasmin Seidel besonders wichtig, darauf hinzuweisen, das Eigentum anderer zu respektieren, nichts mitzunehmen und nichts dazulassen: Vandalismus ist tabu. Sie rät, sich immer vorsichtig zu verhalten, niemals allein loszuziehen, denn das Betreten verwitterter Orte kann gefährlich sein und bedarf einer guten Vorbereitung.
„Lost Places am Bodensee“, Jasmin Seidel
Gmeiner-Verlag
D-88605 Meßkirch
www.gmeiner-verlag.de
Text: Stefanie Göttlich
Beitragsbild: Ehemalige Produktionshalle der Papierfabrik Mochenwangen | © Jasmin Seidel