D – Friedrichshafen | Marie-Sophie Reck kommt mit dem Fahrrad zum Interview. Eine entspannte junge Frau mit Stofftasche, Häkeljacke, Augen in etwa so blau wie ihr T-Shirt und einer intensiven, sanft-heiteren Ausstrahlung. Marie-Sophie Reck ist UNO-Offizier für humanitäre Angelegenheiten und hat 14 Jahre lang die humanitären Hilfsprogramme der Vereinten Nationen koordiniert.
Die letzten drei Monate waren die ersten in den vergangenen 15 Jahren, in denen sie nicht permanent auf Reisen war, erzählt sie, und lässt den Blick über den Bodensee schweifen. Jetlag kenne sie nicht, weil sie sowieso ständig Zeitzonen durchreist. „Ich schaue halt auf die Uhr im jeweiligen Land.“ Dass sie zum Interview an der Hafenpromenade in Friedrichshafen sein kann, hat einen ganz einfachen Grund: Marie-Sophie Reck ist hier geboren. Ihre Familie lebt in der Zeppelinstadt – und sie ist ein paar Tage zu Besuch, bevor sie nach New York zieht, um im Büro des Generalsekretärs der UNO, António Guterres, zu arbeiten. Hier leistet sie Verbindungsarbeit zwischen den Mitgliedstaaten der UNO und weiteren Akteuren, mit dem Ziel, Ressourcen, sprich Gelder zu mobilisieren, für die große Reform in der Entwicklungshilfe. Die internationale Staatengemeinschaft hat dem Generalsekretär das Mandat dafür erteilt. „Das ist eine sehr spannende Aufgabe, in einer historisch einzigartigen Zeit für die Vereinten Nationen. Es ist ein unheimlicher Aufwind und eine gute Energie zu spüren“, sagt sie und erzählt von der Arbeit des OCHA – Office for the Coordination for Humantarian Affairs, dem Büro der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten in Genf, für das sie in den vergangenen 14 Jahren gearbeitet hat. Die Erfahrung aus dieser Zeit, in der sie viel Feldarbeit geleistet hat – sprich leibhaftig vor Ort in Krisen- oder Katastrophengebieten gewesen ist – sei für ihren neuen Auftrag sehr nützlich.

Ein Fax von der UNO
„Die UNO ist das Gewissen der Welt“, hat der frühere Generalsekretär Kofi Annan einmal gesagt. Wie kommt ein Mädchen vom Bodensee in das Hauptquartier der UNO in New York? Marie-Sophie Reck war 23 Jahre jung, als sie ihre Karriere bei der UNO mit einem Praktikum gestartet hat. Das war 2003. „Mich hat immer das Internationale interessiert“, erklärt sie. Mit 16 wechselte sie auf eine Schule in England, begann dort ihr Studium der Politwissenschaften, das sie in Frankreich beendete. Die UNO stand damals noch nicht auf ihrem Lebensplan. Eigentlich wollte sie ihren Doktor machen. Dachte an den diplomatischen oder auch militärischen Dienst. Während ihrer Masterarbeit, die sie über die Zusammenarbeit zwischen humanitären Organisationen und dem Militär im Irak, im Kosovo und in Afghanistan geschrieben hatte, ergaben sich die ersten Kontakte zur UNO, und sie bewarb sich schließlich für ein Praktikum in Genf. „Ich weiß noch genau, wie es sich angefühlt hat, als das Fax mit der Zusage der UNO bei mir ankam. Wie stolz ich war“, sagt sie und ergänzt: „Das geschah nur, weil mich mein Professor für die Masterarbeit nicht ins Feld gelassen hat. Er sagte, das sei zu gefährlich für mich. Und so habe ich so viele Interviews wie möglich mit Leuten geführt, die selbst draußen waren.“ Heute sagt sie, dass die UNO genau zu ihr passe. „Mich faszinieren die Werte, für die diese Organisation steht, und die Art, wie sie ihre Prinzipien umsetzt. Auf dieser Basis zu handeln und international etwas in der Welt zu bewirken, motiviert mich jeden Tag.“ Die Eigenschaften, die sie persönlich mitbrachte – mehrere Sprachen, Engagement, Weltoffenheit, Interesse … waren sehr hilfreich. Nach ihrem Praktikum wurde sie direkt eingestellt.
Kokosnusspalmen versperren den Weg
Naturkatastrophen oder Krisen durch Kriege stürzen viele Menschen in große Not. Sie sind dann auf humanitäre Hilfe angewiesen. Aber richtig zu helfen erfordere Besonnenheit, Planung und den Dialog mit den betroffenen Ländern und Menschen, den Geldgebern, den anderen Organisationen. Dazu kämen Faktoren, die das Helfen zusätzlich erschweren: Zerstörung durch Erdbeben, unpassierbare Straßen, wie beim Taifun Haima auf den Philippinen geschehen, als umgestürzte Kokosnusspalmen sämtliche Wege versperrten. Deshalb sei die Koordination so wichtig. OCHA sei geschaffen worden, um die notwendige Hilfe zu koordinieren. Marie-Sophie Reck war zuständig für die Koordination und die strategische Planung der Hilfseinsätze sowie das Mobilisieren von Ressourcen. „Da gehört es dazu, dass man rausgeht. Das bedeutet nicht, selber Hilfsgüter zu verteilen, sondern dafür zu sorgen, dass die richtige Hilfe zur richtigen Zeit am richtigen Ort ankommt“, betont sie. Eine der Hauptaufgaben von OCHA sei es, im Feld eine Plattform darzustellen, zum systematischen und strukturierten Informationsaustausch, für alle humanitären Organisationen, für die lokalen Behörden und lokalen Helfer, die sich auskennen und mit Wissen und Ortskenntnis den Einsatz unterstützen. Nach der Bestandsaufnahme werde die Hilfe thematisch eingeteilt, beispielsweise Medizin, Ernährung, Bildung, Wasser … für jedes Thema gibt es Organisationen die sich spezialisiert haben, wie Ärzte ohne Grenzen oder Oxfam. OCHA erstelle Karten, die visualisieren, was wo gebraucht wird, welche Organisation wo im Einsatz ist. „Beim Haiti Erdbeben hatten wir beispielsweise über hundert Organisationen bei uns registriert“, erzählt Reck. Humanitäre Hilfe sei eine vielschichtige Aufgabe und sehe aus der Ferne sehr viel weniger komplex aus, als sie es tatsächlich sei.

Es geht immer um die Würde des Menschen
Zu den Aufgaben der UNO gehört auch das Plädoyer, sich auf allen, auch höchsten politischen Ebenen für Krisengebiete einzusetzen, unter anderem auch für vergessene Krisen, mit allem, was dazugehört. Im Grunde gehe es immer darum, die Würde des Menschen zu respektieren, Menschenleben zu retten, den Menschen das Leid zu erleichtern, zu lindern. Dazu werden Richtlinien für die humanitäre Hilfe erstellt, damit es internationale Standards für die Hilfe gibt, für das Mobilisieren von Ressourcen und deren effektiver Einsatz. Diese Arbeit muss in der Regel sehr schnell geschehen – Katastrophen kündigen sich selten rechtzeitig an. „Beispielsweise in Erdbebengebieten sind die ersten 72 Stunden essenziell. Vor allem für die Suchteams. Deshalb haben wir grundsätzlich eine gepackte Tasche zu Hause stehen, um im Notfall sofort los zu können“, erzählt Reck.
Wie einst Henry Dunant
Die UNO ist der Rahmen, das Gehirn der humanitären Hilfe und dafür da, Hilfe effektiv und effizient zu machen. Im Sinne der Menschen, denen geholfen werden soll. Auf der Basis der vier Prinzipien der humanitären Hilfe: Menschlichkeit, Neutralität, Unparteilichkeit, politische Unabhängigkeit. Am Beispiel von Henry Dunant, dem Begründer der Rot-Kreuz-Bewegung. In der Schlacht von Solferino ging er mit Krankenschwestern ins Schlachtfeld, und hat, ohne Ansehen der Nationalität, allen geholfen. Die UNO wurde 1945 mit dem Ziel, die Menschheit „vor der Geißel des Krieges zu bewahren“, gegründet, wie es in der Charta heißt. Ihr Sitz ist in New York. Bis in die 1970er-Jahre hinein half sie meist bei Naturkatastrophen, um schließlich die Hilfe auch auf Konflikte auszudehnen. „Das ist spannend, denn sie hat kein Mandat, anderen Organisationen Befehle zu erteilen. Die Arbeit beruht auf dem Mehrwert und der Relevanz für die Mitgliedstaaten“, erklärt Reck.
Wir sind füreinander verantwortlich
Ein Aspekt respektvoller Hilfe könne auch sein, den Leuten keine Hilfe aufzuzwingen, sondern ihre wahren Bedürfnisse zu beachten. Reck: „Es gibt Programme, in denen eher Geld verteilt wird und sich die Leute selber kaufen können, was sie benötigen, statt Güter in Masse zu verteilen, die vielleicht gar nicht gebraucht werden. Auch das habe mit Würde zu tun, mit Respekt und Selbständigkeit, mit weniger Bevormundung. Und kurbelt gleichzeitig die lokale Wirtschaft an.“ Der Bedarf an Nothilfe werde immer größer. Wenn sich etwas ändern soll, müsse die ganze Menschheit zur Verbesserung und Prävention beitragen – in dem Wissen: Wir Menschen sind füreinander verantwortlich. „Jeder muss bei sich anfangen und darüber nachdenken, wie er weniger Schaden anrichtet. Und dankbar sein und schätzen, was er hat – denn kein Mensch sucht sich sein Geburtsland aus“, sagt sie. Den Naturkatastrophen durch Klimawandel stehe der Klimaschutz gegenüber. Den Konflikten der Dialog. „Es ist möglich, Konflikte durch Dialog zu lösen!“ Man könne sehr viel mit Prävention erreichen, indem man Krisen vermeide, durch die gute Zusammenarbeit mit den Ländern. Eine Priorität, die im internationalen Programm aufgenommen werde, sei daher die Prävention, die in der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung zum Ausdruck kommt. Die internationale Staatengemeinschaft hat sie 2015 vereinbart und sie schafft die Grundlage dafür, weltweiten wirtschaftlichen Fortschritt im Einklang mit sozialer Gerechtigkeit und im Rahmen der ökologischen Grenzen der Erde zu gestalten.

Fokus auf nachhaltiger Hilfe
Als Arbeiterin im Feld hat Marie-Sophie Reck viel Leid gesehen. Die UNO lebe ihre Prinzipien auch für ihre Mitarbeiter, behandle sie mit Wertschätzung, stärke sie. Achte darauf, dass ihr Personal gesund bleibe, an Körper und Geist. Und obwohl es natürlich schlimme Zustände gebe, gebe es auch viele schöne Momente, in denen die humanitären Helfer Herzlichkeit, Wärme und Dankbarkeit von den notleidenden Menschen erführen, was sehr motivierend und bereichernd sei. „Wir sind dafür da, um aufs Leben zu schauen – das ist ein optimistischer Ansatz, um ein positives Resultat zu erzielen. Wir verlieren die Menschen, denen wir helfen, nicht aus den Augen und legen den Fokus auf die Nachhaltigkeit der Hilfe.“ Was grundsätzlich bedeute, mit den lokalen Organisationen und Behörden zusammenzuarbeiten, sich in bestehende Strukturen einzubringen, damit es nicht bei der Nothilfe bleibe. Die UNO gehe nur auf Einladung des betreffenden Staates in das Land. „Wir sind Gast in diesen Ländern – wir wollen nichts übernehmen, sondern unterstützen. Es gibt sehr viele Akteure, die in die humanitäre Hilfe hineinspielen – es gibt unzählige Initiativen von Menschen, die Hilfe leisten – auch sehr kleine und lokale, die ganz tolle Arbeit verrichten. Das muss erwähnt und gelobt werden. Nicht nur die großen, die in den Medien sind.“
Text & Foto: Susi Donner