Die in Konstanz geborene Künstlerin, Filmemacherin, Fotografin und Feministin Ulrike Ottinger wurde Ende Juni mit dem Ehrenpreis des Deutschen Dokumentarfilmpreises 2024 für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Die 81-Jährige gehört längst zu den bedeutendsten deutschen Filmemacher*innen.

Schon wieder ein Preis für Ulrike Ottinger? Ja, denn die ausufernde Vielfalt ihres Schaffens kann gar nicht genug gewürdigt werden. Mit ihren feministischen Positionen und ihren ethnografischen Erkundungen, immer radikal, gerne auch surreal und voller Ironie, war sie ihrer Zeit stets voraus und ist es noch, wie zuletzt ihre große Ausstellung in Baden-Baden 2022 bewies.

Künstlerin durch und durch
Ulrike Ottinger gehört seit den 1960er-Jahren als Malerin, Fotografin und Performerin zur künstlerischen Avantgarde. Anfang der 1960er-Jahre eröffnete sie ihr Atelier in Paris, wo sie sich zu einer der bedeutendsten Repräsentant*innen der Pop-Art in Europa entwickelte. Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland Ende der 1960er-Jahre widmete sie sich vermehrt dem Filmen, schrieb Drehbücher und etablierte sich schließlich sehr erfolgreich ab den 1970er-Jahren mit ihren experimentellen Film-Dokumentationen und Spielfilmen in der internationalen Filmszene. In Konstanz gründete sie 1969 den „filmclub visuell“ in Zusammenarbeit mit der Uni Konstanz, in dem sie internationale Independent-Filme, den Neuen Deutschen Film und historische Filme zeigte. Das von ihr als alternative Kulturkneipe, damals mit Kinoraum im Hinterzimmer, gegründete „Salzbüchsle“ gibt es noch heute in Konstanz. Es war ein Treffpunkt starker Frauen in Anzug und Weste, gerne auch Zigarre rauchend. Mit ihren fotografischen und filmischen Arbeiten war Ottinger unter anderem an großen Kunstausstellungen wie der Biennale di Venezia, der Documenta und der Berlin Biennale beteiligt. Ottinger arbeitete auch fürs Theater, inszenierte beispielsweise Stücke von Elfriede Jelinek.

Dem Publikum die Augen öffnen
Seit Anfang der 1970er-Jahre hat die autodidaktische Pionierin 27 Kurz-, Spiel- und Dokumentarfilme realisiert und selbst gedreht. Sie widmete sich dem Frau-Sein, stellte queere Identitäten in den Mittelpunkt, griff gesellschaftliche Missstände auf, zeigte eher unbekannten Welten, die sie immer mit großer Hingabe und Ruhe einfing. Ihr erster Film, „Laokoon und Söhne“, zusammen mit Tabea Blumenschein, entstand von 1971 bis 1973. Bereits hier ist ihre besondere Ästhetik deutlich zu erkennen: imposante, extravagante, durchdringende Bilder, kunstvoller Musikeinsatz und ein Inhalt, der seine ureigene Form wählt. Unverkennbar ist ihr aus der bildenden Kunst und der Fotografie geschulte avantgardistische Blick. Ihr wohl umstrittenster Spielfilm, „Madame X – Eine absolute Herrscherin“, lief zur besten Sendezeit im Fernsehen und löste kontroverse Diskussionen aus. Aber auch „Bildnis einer Trinkerin“ oder „Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse“ mit einer rein weiblichen Hauptdarstellerinnenriege, angeführt vom ersten deutschen Supermodell Veruschka von Lehndorff, sorgten für Aufregung und stehen für Aufbruch und Selbstbestimmung.
Während sich Ottinger eher dezent in maßgeschneiderten Anzügen zeigt, präsentiert sie in ihren Arbeiten schräge Collagen aus Mode, Literatur und Musik. Glanzstücke aus dem revolutionären, opulenten Kleiderreigen ihrer Filme in rauschenden Farben wurden bereits ausgestellt.

Ulrike Ottingers Filme sind wahre Glücksfälle. Sie schaffen es, das Publikum auf besondere Weise zu durchdringen. Ottingers Handschrift und ihr künstlerischer Ausdruck sind unverkennbar, ihre Bildsprache ist ganz besonders feinfühlig. Es ist eine große Freude, unsere facettenreiche Welt durch ihre Filme und damit durch ihre Augen sehen zu können.

Kai Gniffke, SWR-Intendant und ARD Vorsitzender

Keine leichte Kost
Ottingers erster viereinhalbstündiger Dokumentarfilm, „China. Die Künste – Der Alltag“, erschien 1985. Auf ihn folgten viele weitere Reisen durch Asien, aus denen kunstvolle, bewegende und tiefsinnige filmische Arbeiten resultierten wie der Spielfilm „Johanna d’Arc of Mongolia“ oder der achteinhalbstündige Dokumentarfilm „Taiga“. Die Präzision und Hingabe, die sie beim Erschaffen ihrer Werke sich selbst abverlangte, forderte sie auch von ihrem Publikum ein. Leichte Kost waren ihre Filme nie, denn Ottinger verzichtete weitgehend auf lineare Handlungsstränge. Herausfordernd besonders mit Blick auf die Filmlängen – der Reisefilm „Chamissos Schatten“, eine Erkundung der Arktis, dauerte gar zwölf Stunden. In ihrem jüngsten Film, „Paris Calligrammes“ (2019), reist Ulrike Ottinger zurück in ihre eigene Vergangenheit, in die vermutlich prägendste Zeit für ihre Kunst und ihre Filme, die sie auch mit über 80 Jahren noch erschafft. Der Film erinnert an den 1888 in Wangen auf der Höri geborenen jüdischen deutsch-französischen Buchhändler Fritz Picard und ist eine Hommage an die von ihm gegründete Pariser Buchhandlung, die zentraler Schauplatz ist.

Ausgezeichnet
Ulrike Ottinger wurde vielfach geehrt, immer wieder auch international, natürlich auch mit dem Kunstpreis ihrer Heimatstadt Konstanz (2006) oder mit dem Bundesfilmpreis (1989) und mehrfach mit dem Preis der deutschen Filmkritik. Für ihr Lebenswerk erhielt sie übrigens schon 2010 das Bundesverdienstkreuz am Bande. Jüngste Preise sind 2020 die Berlinale Kamera und der Festival Award des queeren Pink Apple Filmfests, das jedes Jahr in Zürich und Frauenfeld stattfindet. 2021 wurde ihr der Hans-Thoma-Preis des Landes Baden-Württemberg überreicht. Kunststaatssekretärin Olschowski betonte damals: „Der Reichtum ihres künstlerischen Wirkens ist geradezu unerschöpflich. In Zeiten, in denen die Kunst vor allem von männlichen Protagonisten geprägt war, gelang es ihr, gegen alle Konventionen einen sehr eigenständigen und bildstarken Stil zu entwickeln, der bis heute aktuell und für viele Künstlerinnen und Künstler inspirierend ist.“
Mit dem aktuellen Ehrenpreis wurde das vielfältige Lebenswerk von Ulrike Ottinger vom SWR Dokufestival mit einer Retrospektive geehrt. Einen Einblick in das surreale, originelle und extreme Filmwerk von Ulrike Ottinger vermittelt das Filmporträt „Die Nomadin vom See“, das die ebenfalls aus Konstanz stammende Filmemacherin Brigitte Kramer 2012 gedreht hat.

www.ulrikeottinger.com

Text: Stefanie Göttlich
Beitragsbild: Der Ehrenpreis des Deutschen Dokumentarfilmpreises geht in diesem Jahr an Ulrike Ottinger für ihr Lebenswerk. | Porträt von Ulrike Ottinger | © SWR Anne Selders