Gerade auf Tour am Bodensee und demnächst in den Kinos
Der neue Film „Alle reden übers Wetter“
Regie: Annika Pinske, Kamera: Ben Bernhard  
Termine:
17.09. / 20:30 Uhr | Lindau: Parktheater und Studio Kino
18.09. / 19 Uhr | Lindenberg: Neues Krone Kino
19.09. / 20Uhr | Bregenz: Honululu
21.09. / 19:30 Uhr | Friedrichshafen: Cineplex
22.09. / 19:30 Uhr | Konstanz: Cinestar

Im Januar auf Netflix die große, dreiteilige Neymar-Dokumentation, im September kommt der Spielfilm „Alle reden übers Wetter“ in die deutschen Kinos, und jüngst hat die in Indien spielende Doku „All That Breathes“ bei den Filmfestspielen in Cannes die höchste Auszeichnung, „Das goldene Auge“, gewonnen. Läuft für den in Konstanz aufgewachsenen Kameramann Ben Bernhard, der mittlerweile in Berlin lebt, mit der Kamera durch die Welt reist und immer gerne auch Zeit im Allgäu in seiner Hütte in Scheidegg verbringt.

Als wir telefonieren, ist er gerade auf dem Rückweg von Cannes. „Ich hätte nie gedacht, dass uns gerade dieser Film, quasi direkt aus den Straßen von Delhi auf die roten Teppiche in Cannes katapultiert“, resümiert Ben Bernhard, der noch voller Eindrücke ist. Einerseits von den glamour&glitzer-behafteten Tagen an der mediterranen Reichenmetropole: „Unglaublich, was man da an Geld für Reinigung von Anzügen und Lackschuhen ausgibt. Ohne Fliege kommst du noch nicht einmal ins Kino. Überraschend war jedoch, dass wir sogar als Preisträger für den besten Dokumentarfilm leider nicht die gleichen Privilegien wie die Spielfilme hatten. So gibt es für die Auszeichnung des ,Goldenen Auges‘ eine parallele Preisverleihung, während selbst Kurzfilme abends in der großen Gala ausgezeichnet werden. Das ist sehr schade und sollte sich ändern, Dokumentarfilm hat mehr Ansehen verdient! Aber immerhin hat man die Spielfilm-Stars auf dem roten Teppich beim Kinobesuch getroffen und saß zusammen in den gleichen Reihen, was vor allem unsere Protagonisten sehr begeistert hat.“

Im Widerspruch zweier Welten
Doch gerade dieses grelle Scheinwerferlicht in Cannes hat das preisgekrönte Werk auch nochmals anders schillern lassen, es gab viele Flashbacks zu den aufregenden Dreharbeiten im Corona geplagten Delhi. „Das war wie ein psychologisches Kammerspiel. Um uns herum sind Menschen gestorben, auch Familienmitglieder unserer indischen Crew. Gleichzeitig steckten wir als Filmteam in Quarantäne in einem schönen Haus fest, mit Balkon und Blick auf einen Park und bekamen nichts davon mit. Über europäische Medien habe ich mitverfolgt, was eigentlich um uns herum passierte, während die Indische Crew versucht hat, per Telefon Freunden und Familie zu helfen, etwa Krankenhausbetten und Medizin zu besorgen. Wir waren mittendrin in dieser Dystopie, während um uns herum Idylle herrschte und die Tiere im Park herumgetollt sind. Auf unserem Balkon hat sogar ein Kolibri ein Nest gebaut!“, fasst Bernhard die surreale Situation zusammen.
Surreal auch die erinnerte Szene bei einer anderen Produktion, als er während der Corona-Pandemie in seiner Almhütte in Scheidegg im wunderschönen Allgäu sitzt und Drehanweisungen für die Neymar-Doku verfasst. Da er selbst nicht anreisen konnte, musste er die Bildsprache für die Zusatz-Interviews von Fußballstars wie Beckham, Lionel Messi, Ronaldo oder Mbappe aus der Ferne dirigieren. Fußball-Götter eben, die in Statements über den anderen Gott sprechen. Und gleichzeitig beobachtet er den Flug der wunderschönen Rotmilane über den Baumwipfeln vor einem imposanten Alpenpanorama, noch nicht ahnend, dass er sehr bald deren indische Verwandte filmen wird.
Im Film „All That Breathes“ geht es um Schwarzmilane, aufgepäppelt in engen Käfigen.

Verbindung von allem mit allem
Die Übersetzung „Alles, was atmet“ trifft es nur ansatzweise. „Dabei geht es um zwei Brüder und deren Cousin, die in Delhi eigentlich Bodybuilding machen wollten, normale Jungs, Muslime, die dann angefangen haben, verletzte Schwarzmilane zu retten, weil diese als ,fleischfressende Tiere‘ in Indien keine Lobby haben. In Hindu-Tierkliniken werden sie als ,unrein‘ abgewiesen, gelten als muslimisch. Also helfen sich die Jungs selbst und pflegen die Tiere. Das spricht sich rum und es werden immer mehr. Nebenbei haben sie sich Tiermedizin beigebracht. Heute haben sie Käfige mit 250 Schwarzmilanen, und ihre Mission ist, ihnen zu helfen. Dabei haben die Brüder selber nichts“, führt Bernhard aus. Ihn fasziniert die „Menschlichkeit, dass es eigentlich wenig braucht, um in dieser Welt etwas zu verändern, und wirklich jeder einzelne was tun kann“.
Es ist ein Film über eine bemerkenswerte Familie, die mehr als 20.000 Vögel gerettet hat.
Und überdies ein Film, der gleichzeitig die Geschichte der steigenden Vergiftung der Umwelt und des sozialen Miteinanders in einer sich radikalisierenden Gesellschaft thematisiert. Dabei sehen fanatische Hindus in Moslems „Raubtiere“, sehen sie also als ebenso unrein an wie die fleischfressenden Milane. Diese verschiedenen Ebenen, die Gleichzeitigkeit, Parallelität, die Verbindung von allem mit allem, Ben Bernhard spricht von „Interconnectedness“, das fasziniert ihn an der Geschichte, an Geschichten überhaupt. „Wie übersetzt man das filmisch für Zuschauer?“ ist die Frage, die ihn dabei beschäftigt.
Nicht ohne Erfolg, wie man sehen kann: Denn bereits beim Sundance Festival in den USA sorgte er für Furore, gewann den Grand Jury Prize, ehe er in Cannes abräumte.
Mit seinen früheren Filmen für den Doku-Star-Regisseur Victor Kossakovski hatte er sich dem Thema schon genähert: In „Vivan las Antipodas“ ging es um die jeweils auf dem Globus gegenüberliegenden Orte. Was läuft parallel da drüben? Bei „Aquarela“, den er in einer kleinen Premiere kurz vor Beginn der Corona-Pandemie noch im Konstanzer Cinestar präsentieren konnte, ging es um die Vielschichtigkeit der unterschiedlichen Zustände von Wasser, das zeitgleich alles sein kann: maximal zerstörend und maximal lebensspendend, Eis und Dampf, plätschernd und orkantosend.
Und jetzt filmt er scheue Vögel in Käfigen in muslimischen Vierteln in Delhi und superreiche Fußballer, „die in einem goldenen Käfig ein völlig absurdes Leben leben“. Und beide Projekte laufen irgendwie parallel.

Mit Stars und Sternchen
Drei Monate verbrachte Bernhard mit Neymar und filmte ihn, verbringt Weihnachten im Kreise seiner Familie, alles ohne jegliche Berührungsängste. Während Menschen, für die Fußball alles ist, zu Salzsäulen erstarrten, wenn sie Neymar oder einer anderen Fußball- Gottheit nur gewahr wurden: „Unser Fahrer zum Beispiel“, lacht Bernhard. Das Thema mag jeweils leidenschaftlich erarbeitet sein, doch das Auge des Kameramanns bleibt kühl. 

Parallelitäten auch in Cannes: Auf der einen Seite die erfolgreiche Crew, offensichtlich indisch, vom Regisseur bis zum Darsteller. Umworben und verhätschelt auf roten Teppichen, doch auf der anderen Seite spüren sie die Ablehnung, wenn sie in ein französisches Restaurant gehen. „Eigentlich auch wie in Delhi, Europa ist da bei Weitem nicht besser. Von wegen First World und so.“
Überhaupt war Cannes spannungsgeladen: Das Partnerland der Festspiele war das Filmland Indien. Das bunte, heitere Bollywood-Kino. „Alle Stars waren da, Schickeria in großen Festzelten. Und als nicht offizieller Beitrag Indiens unser Film.“ Parallelwelten.
Mal sehen, wann der Film in die deutschen Kinos kommt. HBO hat ihn gekauft. Vielleicht sieht man ihn auch erst im Streaming. „All That Breathes“ hat weitere Preise gewonnen und wird auf vielen großen Festivals weltweit zu sehen sein. Derzeit ist er sogar ein heißer Anwärter für den Doku-Oskar. Man wird sehen.
Doch spätestens ab September heißt es dann: „Alle reden übers Wetter“. Eine deutsche Produktion, die in die Kinos kommt. Namhafte Schauspieler wirken mit, beim Erstlingswerk der Regisseurin Annika Pinske. Dabei zum Beispiel Sandra Hüller, die Hauptdarstellerin von „Toni Erdmann“, bei dem Pinske Regie-Assistentin war. Und Kameramann Ben Bernhard. Alles ist mit allem vernetzt. „Ich war mit Annika sogar im Jahr der Premiere von ,Toni Erdmann‘ in Cannes. Wir hatten dort einen Kurzfilm und haben eine Behind-the-Scenes mit Maren Ade gedreht. Deshalb weiß ich, was Spielfilm-Privilegien bedeuten …“
„Die Regisseurin und ich haben Parallelen in der Biografie, und das thematisiert auch der Film: von der Provinz in die große Stadt, von der Unterschicht in eine intellektuelle, kreative Elite, die einen sogar bis zur Promiwelt an der Côte d’Azur bringen kann“, sinniert Bernhard, „eben das Leben zwischen verschiedenen Welten, das Hin und Her, und das Gefühl, nirgends komplett zugehörig zu sein.“

Kleinstädter und Weltenbummler
Ben Bernhard lebt als Konstanzer, als Kleinstädter im großen Berlin und so oft es geht mittlerweile nun im Allgäu, auf dem Hof in Scheidegg, den er und seine Schwester geerbt haben und den er sukzessive renoviert.
Apropos: Ein weiteres Filmprojekt, bei dem Bernhards Auge gefragt war, ist der Kinofilm „Rohbau“. „Ein spannendes Projekt von SWR, BR und ARTE des Regisseurs Tuna Kaptan, den ich letzten Herbst in Mannheim, im Allgäu, in Italien und Albanien gedreht habe.“ Der Film befindet sich gerade in Stuttgart beim Sounddesign und kommt nächstes Jahr ins Kino bzw. Fernsehen. „Hier bewerben wir uns gerade fürs Zürich Filmfestival … mal sehen.“
Bei seinen Besuchen im Allgäu kann er abschalten vom Leben aus dem Koffer und dem Großstadt-Trubel. Er könne sich auch vorstellen, hier mehr zu machen, mehr kreativ zu sein in der Region um Bodensee und Allgäu. „Vielleicht so was wie ein ,Artist in Residence‘ im Drei-Länder-Eck um mein Haus aufziehen“, überlegt er laut … Und manchmal ist er dann auch auf Durchreise bei Freunden in Konstanz – Parallelwelten eben …

www.allthatbreathes.com
www.regio-tv.de/mediathek/video/portrait-kameramann-ben-bernhard-auf-oscar-kurs
www.newmatterfilms.com/alle-reden-uebers-wetter
(Kinostart Deutschland 15.09., Österreich 16.09., Schweiz noch unklar.)
„Neymar: Das vollkommene Chaos“ auf Netflix
www.woodwaterfilms.com/de/projekte/die-feine-linie.html

Beitragsbild: Ben Bernhard vor seiner Hütte in Scheidegg | (c) Michael Scheyer
Text: Markus Hotz