Das Verhältnis von „Sein und Schein“ ist eine Frage, die von der Philosophie über die Kunstgeschichte bis zur Wahrnehmungspsychologie behandelt wird. Auch in der Architektur wurden immer wieder Illusionen erzeugt, mit denen das Prinzip „mehr Schein als Sein“ umgesetzt wird. Mit „Sein & Schein“ hat die Deutsche Stiftung Denkmalschutz ein dankbares Thema für den diesjährigen Denkmaltag gewählt.
Eröffnungen im Kleinen
Mit dem Zusatz „in Geschichte, Architektur und Denkmalpflege“ wird die Vielseitigkeit des Mottos betont: Die Baugeschichte behandelt die Architektur früherer Zeiten, und die Denkmalpflege muss die Frage, wie mit historischen Baudenkmälern umzugehen ist, immer wieder neu beantworten.
Für den Denkmaltag gibt es jedes Jahr eine zentrale Eröffnungsveranstaltung, in Deutschland in jedem Bundesland, in der Schweiz in den einzelnen Kantonen, und auf beiden Seiten des Sees ist es nicht immer die Hauptstadt. In Baden-Württemberg ist es dieses Jahr nicht mal eine Kreisstadt, sondern eine Kleinstadt am Bodenseeufer, die „mit ihrer hohen Denkmaldichte hervorragend geeignet“ ist: Meersburg. Die Eröffnung ist dort sogar schon am Samstag, sodass es am Abend noch eine „Nacht des offenen Denkmals“ gibt, die um Mitternacht schon zu Ende ist. In diesen Stunden gibt es aber ein volles Programm mit Führungen in sonst nicht zugänglichen Bauten, Frauenlyrik im Fürstenhäusle und Walking Acts einer Schauspieler-Truppe.
In Konstanz, der größten Stadt am See, ist die Eröffnung am Sonntagmittag auch nicht in einem der größten und bekanntesten Baudenkmäler (etwa dem Münster oder dem Konzil), sondern in einer Kirche, die zwischen dem Münster und dem Stadttheater oft übersehen wird: Die Christuskirche St. Konrad ist ein Barockjuwel, das als ehemalige Jesuiten- und Schülerkirche auch ein wichtiges Kapitel der Stadtgeschichte illustriert, denn sie hat noch Kirchenbänke mit Hunderten von Inschriften der Schüler.
Schöner Schein durch die Jahrhunderte
Der Barock war die erste Stilepoche, in der bewusst mit Illusionen gearbeitet wurde, teils aus der Not heraus, wenn bestimmte Materialien in der Region nicht verfügbar waren, teils um bestimmte Effekte zu erzielen: Was in den Barockschlössern und -kirchen aussieht wie Marmor, ist in den meisten Fällen nicht das, was es scheint, es ist Stuckmarmor, also ein in mehreren Schichten aufgetragener Edelputz, der durch die Bemalung marmoriert wurde. Und wenn man sich Gold nicht leisten konnte, wurde einfach der Gips vergoldet. Zur hohen Kunst wurde im Barock auch die illusionistische Deckenmalerei entwickelt, mit der eine einfache flache Decke zu einer komplexen Gewölbe- und Kuppeldecke werden konnte.
Die Neo-Stile des Historismus sind Schein-Architektur im großen Maßstab, denn da gehört es zum Prinzip: In der Zeit der Industrialisierung wurden laufend neue Technologien eingeführt, aber stilistisch war das 19. Jahrhundert an vergangenen Zeiten orientiert, man „recycelte“ die Stile des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Da steht in Singen im Osten der Innenstadt eine große spätromanische Kirche, aber im Mittelalter und noch lange später war die Stadt ein kleines Dorf – die Herz-Jesu-Kirche ist neoromanisch. Nach der Romanik gab es im 19. Jahrhundert „Neuaufgüsse“ der nächsten Stile: Gotik, Renaissance, Klassizismus. Was im Barock schon vorkam, wurde im Historismus der „Gründerzeit“ schon fast obligatorisch: Viele schön verzierte Giebel stellen sich von der Seite gesehen als Scheingiebel heraus.
Noch offensichtlicher ist der „schöne Schein“ in der Architektur, sobald man bei historischen wie bei zeitgenössischen Bauten genauer hinschaut. Am meisten verbreitet ist die Schein-Architektur bei modernisierten Altbauten, wenn statt dem Denkmalschutz der Baumarkt beteiligt war. Da gibt es Fachwerkhäuser, bei denen die Balken nur auf die Fassade genagelte Bretter sind, und es gibt Naturstein-Mauern, die nur wenige Zentimeter dick sind. Zu solchem Stil passt dann oft ein „Garten des Grauens“ …
Infos:
12.09. | D: Tag des offenen Denkmals,
www.tag-des-offenen-denkmals.de
26.09. | A: Tag des Denkmals
www.tagdesdenkmals.at
11./ 12.09. | CH: Europäische Tage des Denkmals,
Motto „Gewusst wie“: alten Handwerkstechniken, die bei der Restaurierung ebenso wichtig sind wie beim Bau
www.nike-kulturerbe.ch/de/hereinspaziertch-denkmaltage
Text: Patrick Brauns
Beitragsbild: Christuskirche Konstanz, Seitenaltar rechts