Wie gerecht ist Deutschland? Wie gerecht sind Urteile, die in Deutschland gefällt werden? Es gibt Skandalurteile, die zu Recht das Rechtsempfinden der Bevölkerung und das Vertrauen in das deutsche Rechtssystem erschüttern. Warum bekommt ein Drogendealer für eine relativ kleine Menge Drogen eine fünfjährige Freiheitsstrafe? Und fünf brutale Gruppenvergewaltiger erhalten nur Bewährungsstrafen?! Ingo Lenßen – Deutschlands bekanntester Strafjurist – wohnt am Bodensee und hat ein neues Buch geschrieben: „Ungerechtigkeit im Namen des Volkes“. Ein Titel, der vielen Lesern wahrscheinlich aus der Seele spricht.

akzent: Was hat Sie bewogen, das Buch zu schreiben?

Ingo Lenßen: Der entscheidende Anlass war sicherlich der Shisha-Prozess in Konstanz, der auch im Buch vorkommt. Ich habe die Familie des getöteten jungen Mannes, der völlig grundlos erstochen worden ist, in der Nebenklage vertreten. Besonders schwierig war es, dem Vater erklären zu müssen, dass die Maximalstrafe, die auf den jugendlichen Täter zukommt, zehn Jahre ist. Am Ende bekam er siebeneinhalb Jahre, was bedeuten kann, dass er vielleicht nach zwei Jahren wieder auf freiem Fuß ist. Wie soll das der Vater eines getöteten Kindes verstehen? Da habe ich wieder einmal gemerkt, wie schwierig es ist, den Menschen ein Strafverfahren, geschweige denn ein Urteil zu vermitteln.

akzent: Warum ist das Jugendstrafrecht auch bei schweren Straftaten so milde?

Ingo Lenßen: Weil im Jugendstrafrecht nicht der Präventionsgedanke im Vordergrund steht, sondern der Erziehungsgedanke. Das ist für uns Juristen verständlich. Aber für die Öffentlichkeit, die mit Jura und Justiz nicht so viel zu tun hat, ist das schwer nachzuvollziehen. Das war der Grund, weshalb ich gesagt habe, ich will versuchen, der breiten Masse das Thema näherzubringen, und erklären, warum und wie Urteile gefällt werden. Dabei sind mir natürlich ein paar Urteile in die Hand gefallen, die ich selber nur schwer nachvollziehen kann, bei denen ich sage, das kann doch wohl nicht wahr sein. Beispielsweise dass ein Täter in Hamburg für eine Vergewaltigung mit einer Bewährungsstrafe davonkommt während er sich in Tübingen dafür sechs bis sieben Jahre fangen würde.

akzent: Hat das Ihre juristische Welt erschüttert?

Ingo Lenßen: Nein, die ist nach wie vor völlig in Ordnung – wir müssen einfach damit leben, dass es Zustände gibt, die verbesserungswürdig sind. Ich habe während der fast dreißig Jahre, in denen ich meinen Beruf ausübe, immer wieder Urteile erlebt, bei denen ich nur den Kopf schütteln konnte. Aber im Großen und Ganzen glaube ich doch, dass es am Ende des Tages in Deutschland sehr gerecht zugeht.

akzent: Die Lektüre Ihres Buches hinterlässt irgendwie ein anderes Gefühl …

Ingo Lenßen: Schauen Sie, das Buch behandelt 45 Fälle, die ich herausgenommen habe, weil sie mich erstaunen und weil ich sie für diskussionswürdig halte. Daneben gibt es aber unzählige Fälle, die ich nicht für diskussionswürdig halte. Mit denen ich völlig d’accord bin. Aber um die geht es ja nicht.

Es ist einiges im Argen

akzent: Heißt das, wir dürfen der deutschen Rechtsprechung vertrauen?

Ingo Lenßen: Ja, vertrauen schon. Ein Vertrauensvorschuss ist immer gut. Aber der, der ihn bekommt, muss ihn auch rechtfertigen. Und hierzu benötigt die Justiz die Unterstützung u.a. der Politik. Und da ist einiges im Argen. Wir haben beispielsweise viel zu wenig Richter und Staatsanwälte in Deutschland. Aber auch die Ermittlungsbehörden sind zu dünn besetzt. Das führt in manchen Fällen zu vorschnellen Ergebnissen. Vor Gericht führt es u.a. dazu, dass die handelnden Personen gezwungen sind, Deals einzugehen, weil zu wenig Personal, d.h. zu wenig Zeit vorhanden ist. Das ist mit ein Grund für Statistiken (ob die stimmen oder nicht spielt gar keine Rolle, in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit bestehen sie), die belegen, dass das Vertrauen der deutschen Bevölkerung in den Rechtsstaat, beziehungsweise in den Justizapparat abnimmt. Und das ist nicht gut.

akzent: Sprich es muss mehr Geld für die Justiz zur Verfügung gestellt werden?

Ingo Lenßen: Ja. Unbedingt. Noch funktioniert unsere Rechtsprechung. Damit das so bleibt, müssen der Justiz aber dringend die erforderlichen und ausreichenden Mittel zur Verfügung stehen. Es kann nicht sein, dass wir teilweise in den Ländern Haushaltspositionen für den Justizapparat haben mit 2,5 bis 3,5 Prozent. Das ist viel zu wenig für eine der Säulen unserer Demokratie.

akzent: Warum steht der Täter bei der Urteilsfindung mehr im Mittelpunkt als das Opfer? Was sagen Sie als Jurist und als Botschafter des Weißen Rings dazu?

Ingo Lenßen: Wir haben eine stark täterorientierte Strafjustiz. Wir kümmern uns darum, welches Urteil für den Täter das angemessene ist. Dabei betrachten wir den Tathergang, sein bisheriges Leben, sein Nachtatverhalten. Wir fragen, wie er schnellstmöglich wieder aus dem Knast kommt und wie er am besten resozialisiert wird. Was aber noch mehr in den Blickpunkt muss, sind die Folgen der Straftat für das Opfer. Ich denke Opferschutz und Opferrecht müssen stärkere Beachtung finden. Opfer dürfen nicht alleingelassen werden. Eine Frau, die vergewaltigt worden ist, oder ein Kind, das missbraucht wurde, leiden ein Leben lang unter diesen Taten. Stellen Sie sich vor, Sie bekommen eine Ohrfeige. Wie lange beschäftigt Sie diese Ohrfeige? Wie lange spüren Sie diese Erniedrigung? Und wenn Sie sich jetzt einen körperlichen Eingriff, der wesentlich intensiver ist, vor Augen führen, dann wissen Sie, wie lange das dauert, bis man damit klarkommt. Ich glaube, man vergisst als Opfer die Tat nie, aber man lernt, damit zu leben. Und das muss in die Urteile mit einfließen, das dürfen wir nicht unberücksichtigt lassen. Wer Opfer ist, fühlt sich oft mitschuldig, erniedrigt und schlecht. Dabei ist diesem Menschen ein Unrecht widerfahren. Ein Opfer muss selbstbewusst sagen dürfen, „schau, das hast du mir angetan, ich habe einen Anspruch darauf, dass das wiedergutgemacht wird.“

Opfer darf kein Schimpfwort sein

akzent: Das ist aber ein Dilemma: Wenn das Opfer selbstbewusst im Gerichtssaal sitzt, wird doch subjektiv sein Leid geschmälert?

Ingo Lenßen: Sehen Sie, genau das ist die Perversion. Wir erwarten von jemandem, dem Unrecht geschehen ist, dass er sein Leiden öffentlich zeigt. Sonst gehen wir davon aus, dass die Auswirkung der Tat gar nicht so schlimm ist. Wir müssen akzeptieren, dass ein Opfer ohne zu weinen sagen darf, ja, ich bin vergewaltigt worden und ich leide immer noch darunter. Wir müssen in der Gesellschaft umdenken. Auf den Schulhöfen ist „Opfer“ ein Schimpfwort. Das darf nicht sein. Ein Opfer ist jemand, der besondere Achtung von uns benötigt, weil ihm ja Unrecht geschehen ist. Und es darf nicht sein, dass wir für ein allen Verfahrensbeteiligten gerecht werdendes Urteil vom Opfer verlangen, sein Leid zu offenbaren.

akzent: Brauchen wir härtere Gesetze?

Ingo Lenßen: Unsere Gesetze reichen völlig aus. Wir haben teilweise für Straftaten einen Strafrahmen von bis zu 15 Jahren. Wir müssen die zur Verfügung stehenden Rahmen nur ausschöpfen.

akzent: Es häufen sich die Straftaten von sehr jungen Tätern. Wie kann man damit umgehen?

Ingo Lenßen: Im Jugendstrafrecht gibt es ein neues Modell, das Diversionsverfahren. Man versucht, die jugendlichen Täter der Justiz ganz anders zuzuführen. Zum Beispiel: Ein Jugendlicher, 14 Jahre, randaliert in der Innenstadt, tritt Mülltonnen um und so weiter. Der kommt nicht vor den Jugendrichter und wird wegen Sachbeschädigung verurteilt. Im Rahmen eines solchen Diversionsverfahrens wird durch die Absprache zwischen einem Staatsanwalt und einem Mitarbeiter des Jugendamtes, beispielsweise die Auflage an den Jugendlichen erteilt, ein Jahr lang den örtlichen Kinderspielplatz sauber zu halten und darauf zu achten, dass er nicht beschädigt wird. Das finde ich eine interessante Variante und ich glaube, dass da der Erziehungsgedanke stärker zur Geltung kommt als bei einer Verurteilung. Das ist ein Ansatz, den man bei kleineren Delikten auch in das Erwachsenenstrafrecht übertragen könnte. Wir müssen doch nicht den Täter wegen einer Sachbeschädigung unbedingt ins Gefängnis stecken. Wir können ihm eine Aufgabe zuteilwerden lassen, die sinnvoll ist. Wenn er die erfüllt, ist alles ok, dann bekommt er die Strafe erlassen, wie bei einer abgelaufenen Bewährung. Darüber sollten wir nachdenken.

akzent: Der gegenseitige Respekt in der Gesellschaft geht verloren. Speziell auch gegenüber Frauen. Sehen Sie das auch so?

Ingo Lenßen: Ja. Ich sehe das leider auch so. Das liegt an ganz vielen Dingen. Welche Werte werden denn heute im Elternhaus vermittelt? Das geht bei den einfachsten Umgangsformen los. Beim guten Benehmen. Bei der Freundlichkeit. Beim Umgang miteinander. Aber wenn wir unseren Jugendlichen keinen Respekt entgegenbringen, werden wir keinen Respekt erhalten. Jeder Einzelne muss hier Vorbild sein. Wir müssen unseren Kindern und Jugendlichen viel mehr Zeit widmen, Werte vermitteln. Darauf achten, mit welchen Informationen sie gefüttert werden. Die Kinder werden durch den Zugang zu den Medien viel früher an das Erwachsenenleben herangeführt, früher als Jugendliche vor 20 Jahren, die als Zehn- bis Zwölfjährige draußen beim Fußballspielen waren. Allem voran über Smartphones bekommen Jugendliche Sachverhalte, Verhaltensweisen (Gewaltdarstellungen, Pornofilme) mit, die sie intellektuell und emotional überhaupt nicht nachvollziehen oder begreifen können.

akzent: Was ist mit diesen erschreckenden Fällen, in denen 12-Jährige eine junge Frau vergewaltigt haben? Würde es abschrecken, wenn die Strafmündigkeit auf zwölf Jahre runtergesetzt würde?

Ingo Lenßen: Es ist erschreckend, was da gerade passiert. Es sind Anzeichen für eine Verrohung der Gesellschaft. Die Qualität der Gewalt ist eine andere geworden – die Gewaltbereitschaft ist gewachsen. Teils auch von Kindern begangen, die nicht strafmündig sind. Natürlich müssen wir uns darüber Gedanken machen, aber ich bezweifle, dass es der richtige Weg wäre, die Strafmündigkeit auf zwölf Jahre runterzusetzen. Irgendwann kommt dann vielleicht noch der Ruf, die Strafmündigkeit auf zehn oder gar auf sieben Jahre runterzusetzen. Dann haben wir bald amerikanische Verhältnisse. Ich glaube, wir sind dazu da, unsere Kinder zu schützen. Gleichzeitig erleben wir nämlich im Jugendstrafrecht, dass die Delinquenz (die Anfälligkeit zur Straffälligkeit) der gefährdeten Jugendlichen eher abnimmt, je älter sie werden. Da spielt irgendwann die Vernunft eine Rolle, die Integration in den Arbeitsmarkt, die Orientierung gibt, und nicht zuletzt die erste Freundin oder der erste Freund, die einen guten Einfluss haben. Deshalb glaube ich, dass es wichtig ist, dass wir sehr vorsichtig mit dem Jugendstrafgesetz umgehen.

akzent: Würden Sie jeden Straftäter verteidigen, egal, was er getan hat?

Ingo Lenßen: Nein, ich vertrete zum Beispiel keine Sexualstraftäter. Es sei denn, sie sind geständig und es geht um eine reine Strafmaßverteidigung. Und ich vertrete niemanden aus der rechten Szene.

akzent: Das ist eine gute Aussage …

Ingo Lenßen: Weiß ich nicht. Es gibt Leute, die das nicht verstehen. Das stehe mir doch gar nicht zu. Jeder Mensch habe einen Verteidiger verdient. Da könne ich doch nicht sagen, ich vertrete den oder den nicht. Ich tue das aber. Bei der rechten Szene ist es recht einfach zu begründen, weil ich mit diesem Gedankengut nichts zu tun haben will. Da gibt es nichts zu rechtfertigen. Bei Sexualstraftaten ist es anders. Ich könnte da nicht gut verteidigen, da ich allein schon die notwendigen Fragen an das Opfer nicht stellen wollte.

akzent: Und wie schaut es bei Mord aus?

Ingo Lenßen: Zielt die Frage auf die mögliche moralische Verantwortung eines Verteidigers ab? Ich denke, jede Tat hat eine Entwicklungsgeschichte. Nehmen Sie einen Mann, der seit Jahren auf das Schlimmste von seiner Frau und deren Liebhaber erniedrigt und gedemütigt wird. Wenn der verzweifelt und daran zugrunde geht und irgendwann dem Liebhaber auflauert und ihn von hinten ersticht – dann ist das Mord. Aber glauben Sie, dass der keinen Verteidiger verdient hat? Zugegeben, das ist jetzt auf die Spitze getrieben. Aber im Ergebnis reizt mich jede Verteidigung, bei der es um einen Täter geht, dessen Tat ich nachvollziehen kann, was nicht bedeutet, dass ich sie gutheiße.

akzent: Wer imponiert Ihnen?

Ingo Lenßen: Menschen, die Verantwortung übernehmen.

akzent: Was raten Sie einem jungen Juristen, wie er seinen Beruf heute angehen kann?

Ingo Lenßen: Mit Empathie und Begeisterung. Es ist ein großartiger Beruf. Auch wenn es manchmal zäh ist. Dafür haben sie aber auch großartige Erfolgserlebnisse. Es gibt kaum etwas Schöneres, als zu einem Mandanten zu sagen, dass er wieder ruhig schlafen kann, weil wir eine Lösung gefunden haben.

Steckbrief

Ingo Lenßen lebt und arbeitet in Bodmann-Ludwigshafen. Geboren in Krefeld, Studium der Rechtswissenschaften in Konstanz und Brasilien, Europarecht in Saarbrücken, seit 1997 Fachanwalt für Strafrecht, er ist verheiratet und hat einen jungen erwachsenen Sohn. Hobbys: Eishockey und Golf.

www.ingolenssen.de

Das Interview führte: Susi Donner, Foto: Katrin Zeidler, Susi Donner