…Chancen und Herausforderungen

Von Florian Peking

Wer bei schönem Wetter am Ufer des Bodensees entlangspaziert, dem erscheint das Gewässer vor allem als riesiges Gebiet für Naherholung, Sport und Freizeitaktivitäten. Doch der See erfüllt fernab dieser Idylle Funktionen, die noch deutlich wichtiger sind. Er ist Trinkwasserspeicher für Millionen von Menschen, und es gibt Pläne, den Bodensee zukünftig als CO2-neutrale Energiequelle zu nutzen.

Bundesländer, Kantone und Kommunen am Bodensee beschäftigen sich derzeit fieberhaft mit dem Thema Seethermie. Das ist jene Technologie, bei der – analog zur Geothermie – Wärme aus dem See geholt und nutzbar gemacht wird. „Das Potenzial ist riesig“, sagt Marcel Stofer. Er leitet den Bereich Wärme beim Thurgauer Energieversorger EKT. Die Schweizer sind rund um den Bodensee wohl am weitesten beim Thema Seethermie. In der Gemeinde Gottlieben ist geplant, im Herbst 2025 ein neues Wärmenetz zumindest in Teilen in Betrieb zu nehmen – und mit Seewasser zu beheizen, berichtet Stofer. Mehr als 250 Haushalte sollen dann versorgt werden.

Wie kommt die Seewärme ins Haus?
Die Seethermie funktioniert, wie auch die Erdwärme, nach dem Prinzip der Wärmepumpen-Technologie. Das Wasser wird dabei aus den tieferen Schichten des Bodensees entnommen. Das sei für einen „stabilen Prozess“ notwendig, berichtet Marcel Stofer, denn in der Tiefe habe der See im Winter wie im Sommer eine konstante Temperatur. Leitungen bringen das Seewasser in eine Betriebszentrale am Ufer. Dort läuft es durch einen Wärmetauscher, der dem Wasser Wärme entzieht und diese auf einen zweiten Wasserkreislauf überträgt. Wärmepumpen bringen die Wärme dann mithilfe von Strom auf die benötigte Arbeitstemperatur. Und schon kann die Wärme über ein angeschlossenes Verteilernetz in Gebäude gelangen. „Das Wasser fließt dann, etwa zwei bis vier Grad kälter, wieder zurück in den Bodensee“, sagt Marcel Stofer.

(c) David Weinert

Stand der Planungen
Neben Gottlieben haben weitere Gemeinden im Kanton Thurgau Seethermie-Pläne – etwa Romanshorn, Rorschach, Steinach und Horn. Der Effekt, den die Technologie allein für den Kanton haben könnte, ist nicht zu unterschätzen: „Studien haben ergeben, dass wir damit etwa zehn Prozent des Wärmebedarfs ersetzen könnten“, berichtet der Experte. Auch auf der deutschen Seite setzt man große Hoffnungen in die Seethermie. „Die Idee hat Charme“, sagt Marius Wöhler, Bereichsleiter Energiesysteme beim Stadtwerk am See. Das Stadtwerk plant ein Seethermie-Projekt in Meersburg. Es könnte das erste am deutschen Bodenseeufer sein, das mit Energie aus Seewasser ein Wärmenetz betreibt. „Wenn alles perfekt läuft, haben wir in eineinhalb Jahren die Planung abgeschlossen. Und dann kann der Bagger kommen“, sagt Wöhler.

Das Seethermie-Projekt in Meersburg könnte das erste am deutschen Bodenseeufer sein, das mit Energie aus Seewasser ein Wärmenetz betreibt. (c) Achim Mende

Auch mit anderen Kommunen im Bodenseekreis geht das Stadtwerk am See das Thema an. Mit der Stadt Friedrichshafen etwa, wo Seethermie ein wichtiger Baustein bei der kommunalen Wärmeplanung – und damit der politisch forcierten Wende zu erneuerbaren Energien – sein soll. Hier sei man bei den Planungen noch in einem früheren Stadium als in Meersburg, berichtet Marius Wöhler. Wo können Betriebszentralen entstehen? Wie wird das Wärmenetz konkret ausgebaut? Diese Fragen gelte es in den nächsten Monaten zu klären. Ähnlich sehe es in Überlingen aus, so Wöhler. Im Kreis Konstanz ist das Thema ebenfalls hochaktuell. Die Universität Konstanz beispielsweise benutzt schon seit ihren Gründungstagen Bodenseewasser zur Kühlung ihres Rechenzentrums und von Hörsälen. Der Bau von Großwärmepumpen soll nun dafür sorgen, dass voraussichtlich ab 2027 mehr als zwei Drittel des Heizwärmebedarfs der Uni aus Seewärme gespeist werden.

Euphorisch ist man auch auf der österreichischen Seeseite. „Mit diesem Schatz vor unserer Haustür kann die Energiewende gelingen“, wird der Bregenzer Energie-Stadtrat Heribert Hehle in einer Pressemitteilung zitiert. Das Land Vorarlberg hatte im Frühjahr 2023 in Kooperation mit den Gemeinden Bregenz, Hard und Lochau eine Untersuchung zur Seethermie in Auftrag gegeben. Das Ergebnis: Sieben potenzielle Entnahmestellen für Seewärme konnten die Vorarlberger finden. Zwei in Lochau, vier in Bregenz und eine in Hard. Ganz konkret will man bald zum Beispiel das Festspielhaus und das Schwimmbad in Bregenz mittels Seethermie heizen.

Welche Rolle spielt der Gewässerschutz?
Viele Hoffnungen, viele Projekte – und das ganz ohne Haken? Was bedeutet es für das Wasser – immerhin ein Lebensmittel für Millionen von Menschen – wenn rund um den Bodensee Seethermie-Anlagen wie Pilze aus dem Boden schießen? Genau das hat die Internationale Gewässerschutzkommission für den Bodensee (IGKB) im Blick. Zum Schutz des Gewässers und des Trinkwassers gelten strenge Richtlinien. Zum Beispiel hat die IGKB festgelegt, dass Seethermie-Anlagen, je nach Leistung, bis zu einem Kilometer von Stellen entfernt sein müssen, an denen Trinkwasser entnommen wird. Auch dass der Wärmetauscher nur in einem Sekundärkreislauf betrieben werden darf, ist eine Vorgabe – so wird ein direkter Kontakt mit dem Lebensmittel Wasser vermieden.

Was die Rückgabe des kälteren Wassers in den See angeht, bestehen offenbar wenig Bedenken. „Es ist nicht so, dass man da etwas Klimaschädliches macht“, sagt Marcel Stofer vom Energieversorger EKT. Es sei eher das Gegenteil der Fall: Da sich der Bodensee durch den Klimawandel immer weiter erwärme, sei es eine gute Sache, wenn dem Wasser etwas von dieser Wärme entzogen werde. Ohnehin sei der Effekt angesichts des gigantischen Volumens des Sees sehr gering. „Der Effekt von Projekten wie in Meersburg oder Friedrichshafen ist quasi kaum messbar“, sagt auch Marius Wöhler vom Stadtwerk am See.

Kleiner Eindringling sorgt für große Probleme
Problematischer ist da eher eine andere, noch recht neue Bedrohung im See, die inzwischen allerorten Schwierigkeiten macht: die Quagga-Muschel. Die invasive Art verbreitet sich im Bodensee ungefähr seit dem Jahr 2016. Die freischwebende Larve der Muschel kann sich fast überall festsetzen. So werden Wasserrohre für Trinkwasser verstopft, die dann teuer gereinigt werden müssen. Ein Problem, das auch in Anlagen für Seethermie droht. „Unser Vorteil ist: Wir wissen jetzt, dass die Muschel da ist“, sagt Marius Wöhler. Bei der Planung der Anlagen könne man sich darauf einstellen. „Wir gehen davon aus, dass das beherrschbar ist“, berichtet Wöhler.

Das sieht auch Marcel Stofer auf der Schweizer Seeseite so. „Bei Anlagen, die wir neu bauen, treffen wir technische Vorkehrungen“, sagt er. Die Leitungen werden so konzipiert, dass sie relativ einfach mechanisch zu reinigen sind – „molchen“ nennt das der Fachmann. Dabei wird ein Gerät durch die Leitungen geschoben. „Das ist wie ein Pfeifenputzer, den man durch die Leitung durchdrückt“, erläutert Stofer die Funktionsweise. So werde die Innenseite des Rohres mechanisch abgeschabt und die Muschelreste würden in den See hinausgestoßen. Wie oft solche Reinigungen anstehen werden, sei noch nicht ganz klar. Marcel Stofer rechnet mit etwa zwei bis vier Reinigungen pro Jahr.

Kostenfaktor
Eine weitere große Herausforderung bei der Seethermie gibt es allerdings, noch bevor die Anlagen überhaupt stehen: der Faktor Kosten. Denn Betriebszentralen am Ufer bauen oder Leitungen in den See verlegen – das ist das eine. Um die gewonnene Wärme zum Verbraucher zu bringen, sind allerdings Wärmenetze nötig – die in dieser Form rund um den Bodensee noch recht rar sind. Und sie zu bauen, kostet jede Menge Geld. „Das ist ein kostenintensives Vorhaben“, sagt Experte Marcel Stofer. In das Projekt in Gottlieben etwa werden sechs Millionen Schweizer Franken investiert. Und die Vorarlberger Landesregierung rechnet für ihre neuen Seethermie-Anlagen mit Kosten von mehreren 100 Millionen Euro – die sich aber langfristig amortisieren sollen.

Gegenwind vonseiten der Fischer
Das Vorhaben von immer mehr Anrainern, Wasser aus dem Bodensee zum Heizen zu nutzen, stößt bei Berufsfischern auf Bedenken. Wie der Internationale Bodensee Fischereiverband (IBF) in einer Stellungnahme schreibt, besteht unter anderem die Sorge, dass wertvolle Flächen für die Fischerei verloren gehen könnten. Auch ökologische Belange werden aus Sicht der Fischer nicht ausreichend betrachtet.

„Obwohl der Bodensee ein gigantisches Potenzial zur Gewinnung von Energie bietet und damit einen Beitrag zur Eigenversorgung der Länder darstellen kann, müssen berechtigte Bedenken aller Seenutzer ernst genommen werden“, äußert sich Wolfgang Sigg, erster Vorsitzender des IBF, in einer Stellungnahme an die Internationale Bevollmächtigtenkonferenz für die Bodenseefischerei (IBKF) und an die Internationale Gewässerschutzkommission für den Bodensee (IGKB) in einem Schreiben, das unserem Verlag vorliegt.

Gottlieben im Schweizer Kanton Thurgau: Seethermie versorgt hier bald mehr als 250 Haushalte mit Wärme. © Holger Spiering/Imago

Ein Kritikpunkt der Berufsfischer: Es seien schon viele Seethermie-Projekte in der Planung oder sogar Umsetzung. Aber es sei nicht bekannt, wie viele Anlagen das Ökosystem in Summe vertrage. Auch ökologische Bedenken meldet der IBF an: „Es ist uns nicht bekannt, wie hoch der Schaden bei den Kleinstlebewesen und Fischnährtieren ist. Aus unserer Sicht sind alle Kleinstlebewesen, die mit den gigantischen Mengen Wasser angesaugt, durch Wärmetauscher gepumpt und wieder zurück in den See geleitet werden, als verloren zu betrachten“, schreibt Wolfgang Sigg. Außerdem sehe man es kritisch, sollten Anlagen nicht nur zum Heizen, sondern im Sommer auch zum Kühlen genutzt werden. Das könne angesichts des Klimawandels die Erwärmung des Seewassers weiter befördern.

Der IBF zeigt sich außerdem besorgt, dass Seethermie negative Folgen für seinen Berufsstand haben könnte. Der Fischerei gehe es „nicht besonders gut“ und immer mehr „andere Interessengruppen“ würden vor die Belange der Fischerei gestellt, so der Vorwurf. Durch bereits geplante Anlagen gingen wertvolle Flächen für die Fischerei verloren. „Es sind sensible Flächen betroffen, die für die Fischerei aktuell und in Zukunft noch wichtiger werden, da die Fischerei im hohen See bereits gänzlich zum Erliegen gekommen ist (Felchenfangverbot)“, heißt es in der Stellungnahme.

Da die Leitungen für die Seethermie in den tieferen Schichten des Sees liegen, befürchten die Fischer einen „gravierenden Eingriff in die befischbaren Zonen“. Um den Kontakt ihrer Netze mit den Leitungen und Ansaugkörben zu vermeiden, könnten die Fischer rundherum eine Fläche im Umkreis von mindestens 150 Metern nicht befischen. Zudem könnten Wind und Strömung dafür sorgen, dass sich die Position der Netze verändert. „Stehen die Netze über Nacht im See und es kommt Sturm auf, könnten die Netze am Grund entlangrutschen, bis sie an etwas hängenbleiben, was sich auf dem Seegrund befindet“, heißt es in der Stellungnahme. Nicht selten lege ein Netz Strecken von mehreren hundert Metern zurück. Deshalb fordern die Berufsfischer „Rechtssicherheit“: Sie müssten von Schäden, die sie verursachen, von den Betreibern der Entnahmeleitungen freigestellt werden.

Eine weitere Forderung des Verbands: Beim Bau müsse darauf geachtet werden, dass aus den Rohren keine Hindernisse herausragen, an denen sich Netze verfangen können. „Die notwendigen Ansaugkörbe werden auch in Tiefen unter 50 bis 60 Metern immer ein Hindernis darstellen, auch wenn eine netzabweisende Konstruktion angebracht wird“, schreibt Wolfgang Sigg. Es müsse zudem gewährleistet sein, dass Jungfische wieder aus den Körben entweichen können. Beim Bau der Anlagen müsse, je nach Jahreszeit, Rücksicht auf Laichplätze genommen werden, heißt es – und weiter: „Als Entschädigung für die verlorenen Flächen sowie für eventuelle Schäden müssen praktikable Lösungen gefunden werden.“

www.ekt.ch

www.stadtwerke-am-see.de

www.seewaerme-meersburg.de

www.energieautonomie-vorarlberg.at

www.konstanz.de

www.ibkf.org

Beitragsbild (c) Achim Mende