Wer vom Bodensee zum Wandern – oder jetzt zum Wintersport – ins Toggenburg fährt, kommt mit dem Auto durch mehrere Umgehungsstraßen schneller voran als noch vor über 40 Jahren. Damals musste man sich kurz vor Wattwil noch durch die engen Straßen eines kleinen Städtchens quälen, aber seit 1983 geht es zügig auf der anderen Seite der Thur daran vorbei, teilweise sogar durch einen Tunnel. Dieses Städtchen ist Lichtensteig (nicht Lichtenstein!) und bekommt dieses Jahr den in der Schweiz begehrten Wakkerpreis für seine Bemühungen um die Baukultur.

Zur Vorgeschichte machen wir aber noch unterwegs Station, um zu sehen, wofür früher der Preis verliehen wurde: In den 70er- und 80er-Jahren ging es vor allem darum, Gemeinden zu ehren, die sich besonders bemühen, ihre historisch gewachsenen Ortskerne und Altstädte zu erhalten. So wurde 1984 die Stadt Wil am Anfang des Toggenburg ausgezeichnet, die ihre auf einem Hügel gelegene Altstadt mit dem Schloss Hof zu Wil gut erhält. Und wer etwa von Romanshorn aus ins Toggenburg fährt, kann über das schöne Barockstädtchen Bischofszell, das 1987 den Wakkerpreis bekommen hat, nach Lichtensteig fahren.
In den letzten Jahren wurden mit dem Preis auch Städte ausgezeichnet, die nicht gerade als touristische „Highlights“ gelten und in Reiseführern höchstens mit ein paar Sätzen abgehandelt werden, wie das Gebiet „Lausanne West“, also die Großstadt am Genfer See mit ihren westlichen Vororten (2011), und die Agglomerationsgemeinde Köniz bei Bern (2012). In solchen Fällen geht es darum, dass die Gemeinden sich mit der Stadtplanung und stilistischen Vorgaben für eine überdurchschnittliche architektonische Qualität einsetzen und die Orte damit lebenswerter machen.

Lichtensteig ist in der Reihe ein besonderer Fall: Die Stadt hat zwar eine kleine Altstadt, die teilweise noch mittelalterliche Bausubstanz hat, sie bekam aber erst durch die Industrialisierung nach dem Bau der Bahn im späten 19. Jahrhundert das Stadtbild, das man eben heute von der Umgehungsstraße aus sieht, mit den Fabrikbauten unten an der Thur. Nachdem die meisten dieser Firmen der Globalisierung zum Opfer gefallen sind, wurden die Gebäude in den letzten Jahren nicht abgebrochen, sondern nach und nach für neue Nutzungen umgebaut – und das ist der Hauptgrund, warum die Stadt jetzt den Wakkerpreis bekommen hat.

Bei der Umnutzung von Gebäuden ist die Stadt selbst mit gutem Beispiel vorangegangen: Weil auch eine Bankfiliale geschlossen und das Gebäude gut für Büros nutzbar war, ist die Gemeindeverwaltung in dieses gezogen und hat das bisherige Rathaus für kulturelle Zwecke freigegeben, als „Rathaus für Kultur“. Und weil es in einem Kulturhaus meistens auch ein gastronomisches Angebot gibt, kann man dort jetzt im Café-Bistro Lokal einkehren. Es ist der ideale Ausgangsort, um sich über die Stadt zu informieren und sie zu entdecken. 

Weitere Umnutzungen historischer Bauten sind das „Macher-Zentrum Toggenburg“ im früheren Postgebäude und das „Areal Stadtufer“ im Gebäude der Fein-Elast-Fabrik, die im September 2017 den Betrieb eingestellt hat. Der ganze Komplex am Ufer der Thur, unterhalb der Altstadt, bekommt eine neue Identität „als partizipativ gedachter und gemischt genutzter kultureller Ort mit Ateliers, Gewerbe und Wohnraum“ – so steht es in der Begründung des Wakkerpreises.

An diesem Prozess ist ein großer Teil der Bevölkerung beteiligt, viele Kreative und Gewerbetreibende, die auch von auswärts kommen. Die Entwicklung wäre aber kaum so schnell gegangen, wenn nicht vieles von dem Stadtpräsidenten Mathias Müller (seit 2010 im Amt) angeregt und gefördert worden wäre. Die Partizipation der Beteiligten drückt auch der schön doppeldeutige Slogan „Mini.Stadt“ aus – für Nicht-Schweizer ist das zu verstehen als „meine/kleine Stadt“.

Stadt Lichtensteig, www.lichtensteig.ch
Lokal, Hauptgasse 12, www.lokal-lichtensteig.ch
Wakkerpreis-Fest: 24.06.
Weitere Attraktionen: der „Kägi Glücksshop“ der Keksfabrik Kägi und die markante moderne Kirche St. Gallus 

Text: Patrick Brauns
Beitragsbild: © Christian Beutler/Keystone /Schweizer Heimatschutz