Am frühen Morgen klettern Professor Wolfgang Ertel, Leiter des Instituts für Künstliche Intelligenz an der Hochschule Ravensburg-Weingarten (RWU) und seit Jahrzehnten überzeugter Klimaschützer, sowie der Klimaaktivist Samuel Bosch auf einen Baum an der Hochschule, spannen ein Banner für den Klimaschutz und hängen sich schließlich selbst kopfüber an ein hohes Drahtseil.

Es sind Nachhaltigkeitstage an der Hochschule im Mai 2021, zu denen der Professor später einen Vortrag halten wird. Polizei und Presse bekommen Wind von der Aktion und innerhalb weniger Tage geht sie durch die gesamte deutsche Presse. Was vor allem zwei weitreichende Konsequenzen haben wird. Zuerst die positive: Seine oberste Dienstherrin, Theresia Bauer, Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst, ruft bei ihm an. Er erschrickt und denkt, jetzt wird er abgemahnt, aber sie sagt: „Wissen Sie Herr Ertel, wenn ein Professor auf Bäume steigt, dann muss da was dran sein.“ Sie gibt ihm die Gelegenheit, die Hintergründe zu erklären, die zu seiner Aktion geführt haben.

50.000 Euro zum Fenster raus
Ertel ist seit 28 Jahren an der Hochschule beschäftigt und seit ungefähr zwölf Jahren hat er ein Problem damit, dass in allen Hörsälen und Hochschulräumen in den Semesterferien im Winter die Heizungen in vollem Betrieb laufen, teilweise bei gekippten Fenstern. Eine unfassbare Energieverschwendung, die er mit rund 50.000 Euro zusätzlichen Kosten im Jahr beziffert. Als er dies 2010 mitbekommt, meldet er es sofort dem technischen Betriebsleiter der Hochschule, der ihm erklärt, dass der Hausmeister es nicht leisten könne, die Heizungen in allen Hörsälen in den Ferien herunterzudrehen. Das übernimmt der Professor in den folgenden Jahren selbst und geht währenddessen mit technischen Lösungsvorschlägen „von Pontius zu Pilatus“ bei verschiedenen Ämtern, die ihn stets weiterschicken.

Hochschule muss Vorbild sein
Großartige Idee, aber leider sind alle überlastet und nicht zuständig. Energiesparen interessiert nicht wirklich, solange die Kosten nicht aus der eigenen Tasche bezahlt werden müssen, vermutet der Professor. Dabei sollte eine Hochschule doch Vorbild sein. Mit seinen Studierenden initiiert er ein Pilotprojekt, das zeigt, wie es mit intelligenter WLAN-Steuerung vollautomatisch funktionieren kann. Selbst als er von 2014 bis 2018 Nachhaltigkeitsbeauftragter an der Hochschule ist, kommt er keinen Schritt weiter und legt sein Amt nach vier Jahren entnervt nieder. Sein Nachfolger kämpft erfolglos weiter – bis zu dem Tag, an dem die Ministerin anruft. Nun erhält die Hochschule einen Klimaschutzmanager. „Das ist meiner Aktion zu verdanken“, sagt Professor Ertel.

Professor Wolfgang Ertel
… lebt im ersten Passivhaus Oberschwabens
… kauft Secondhand-Kleidung
… fliegt nicht mehr
… hinterfragt jeden Kauf und jede Autofahrt kritisch

Foto (c) Wolfgang Ertel

„Es sind doch die Menschen und die Erlebnisse, die uns glücklich machen – nicht die Kilometer, die wir dafür reisen.“

Wolfgang Ertel

Einmal auf den Baum kostet 4000 Euro
Und das tröstet ihn über die zweite Folge seiner für einen Hochschulprofessor vielleicht ungewöhnlichen Aktion hinweg: Er wurde nämlich von der Staatsanwaltschaft Ravensburg dazu aufgefordert, ein Bußgeld von 4000 Euro zu bezahlen, wegen „Leitung einer nicht angemeldeten Versammlung“. Ertel, der seit 30 Jahren für den Klimaschutz demonstriert, findet das ungerecht, zieht vor Gericht – verliert und ist enttäuscht, als er im April dieses Jahres  zu 4000 Euro Strafe verurteilt wird, „für einmal auf einen Baum steigen und ein Banner aufhängen und sonst nichts – das war die ganze Versammlung, sie hat niemanden gestört, niemanden behindert.“  Ertel wird in Berufung gehen und erhofft sich vor dem Landgericht ein gänzlich anderes Urteil. Denn: „Was ist das für eine Welt, in der sich Klimaschützer am Ende vor Gericht wiederfinden?“, fragt er sich und sagt: „Ziviler Ungehorsam ist in einem demokratischen Rechtsstaat immens wichtig. Wenn der dermaßen übertrieben unterdrückt und bestraft wird, frage ich mich, bin ich überhaupt noch in einem Rechtsstaat?“

Multiplikator fürs Klima
Professor Ertel beschreitet für den Klimaschutz viele Wege. In Vorlesungen wie „Einführung in die Nachhaltigkeit“ ist er Multiplikator und überbringt den Studierenden die wichtigen  Botschaften, die den Klimaschutz betreffen. Mit seinen Studierenden erarbeitet er praktische Projekte wie beispielsweise das Mobilitätsprojekt zur Bildung von Fahrgemeinschaften, das aktuell über die App pendlerportal.de startet.

Zwänge haben mit Freiheit nichts zu tun
Sein Fachgebiet Künstliche Intelligenz (KI), das momentan einen enormen Boom erlebt, sieht er längst auch kritisch: „Wir können KI heute in allen Lebensbereichen einsetzen, um beispielsweise den Energieverbrauch von Geräten zu reduzieren. Das ist gut. Aber die KI ist einer der primären Treiber des Wirtschaftswachstums. Und Wirtschaftswachstum ist das Schlimmste, was der Umwelt passieren kann.“ Das Plädoyer des Professors geht eindeutig in Richtung Reduzierung des Konsums. „Unser ganzes Wertekostüm wird durch das kapitalistische Wirtschaftssystem bestimmt, das uns beibringt, was wir unbedingt haben müssen, um glücklich zu sein – und das läuft immer auf den Konsum hinaus. Aber das stimmt ja alles nicht. Das sind Zwänge, die mit Freiheit nichts zu tun haben.“ Und so setzt sich der Professor für mehr Selbstbestimmung und neues Denken ein und stellt die Frage: „Was brauchen wir wirklich?“ Die Antwort darauf sei für die Erde und für die Menschen überlebenswichtig.

Sein Tipp: Niko Paech lesen – der Professor für plurale Ökonomik Niko Paech hat in Deutschland den Begriff der „Postwachstumsökonomie“ geprägt und gilt als vehementer Verfechter der Wachstumskritik. Er lernt uns, wie wir nachhaltig leben können.

http://www.hs-weingarten.de/~ertel

Text: Susi Donner
Beitragsbild: (c) Igor Chernov