A – Bregenz | Ein begeisternder Tag in diesem unendlichen Sommer. Der See schimmert im herbstlichen Dunst. Vögel zwitschern. Hier ist die Welt in Ordnung. Oder? Hans-Peter Martin, Journalist, Autor, Ex-Politiker – und vor allem kritisch denkender Mensch – sagt: „Ja. Aber…“

Sanft ruht sein Blick auf dem See. Seine 96-jährige Mutter lebt hoch über Bregenz, Hans-Peter Martin besucht sie regelmäßig. Weniger sanft ist sein neues Buch: „Game Over“ heißt es. Das Spiel ist aus. Der Autor viel beachteter, heiß diskutierter, oft mit Preisen gewürdigter Werke wie „Bittere Pillen“ oder dem Warnschuss „Die Globalisierungsfalle“ sagt darin „Das Spiel ist vorbei für den Westen, für unser Zivilisationsmodell.“ Er liefert eine Analyse des globalen giftigen Cocktails und einen schonungslosen Blick in den Abgrund. Stellt kritische Fragen: „Wie konnten wir nur so versagen? Wie konnten wir zulassen, dass Hyperglobalisierung und Digitalisierung, Börsenkrachs, Klimawandel und Massenmigration alle vier Säulen unserer bisherigen Demokratien einknicken lassen?“ Das Furchterregende: Alles, was er im Buch beschreibt, geschieht jetzt. Heute. Es ist kein Zukunftsszenario. Das Konzept zu „Game Over“ sei in New York entstanden. In jener Nacht, in der Donald Trump zum Präsidenten gewählt wurde. „Es war schwierig für mich, beim Schreiben die notwendige innere Distanz zu den Analysen und oft angstmachenden Prognosen zu wahren“, erklärt der 61-Jährige. Zuletzt habe er 106 Tage durchgearbeitet. „Game Over“ wurde immer dicker – es gab immer mehr Themen, die ins Buch drängten.

„Wie ist es wirklich?

Martin ist 1957 in Bregenz geboren, dort aufgewachsen und zur Schule gegangen. Eine harte Schule. „Wir wurden systematisch von den Lehrern geprügelt. Da waren noch richtige Nazilehrer. Mit meinem Vater war es auch nicht einfach, und so blieb mir, wenn ich mich behaupten wollte, nur die Möglichkeit, mich zu wehren“, erzählt er. Und: „Mich hat immer die Frage beschäftigt: ‚Wie ist es wirklich‘“. Seit seiner frühen Jugend kämpft er gegen Ungerechtigkeit(en) …und für die Wahrheit. Zerbricht sich den Kopf über Auswege aus dem Dilemma. Zuerst bei seiner Schülerzeitung. Ein Auslandsschuljahr in Kalifornien mit 16 Jahren bezeichnet er als prägend. Hier erlebt er zum ersten Mal „Wertschätzung für das, wie man ist“. Mit 23 Jahren arbeitet er bereits für das damals noch hoch angesehene Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“, wird dessen jüngster Redakteur. Sein Antrieb: „Hemmungslose Neugierde. Die Stärke ergab sich aus der Gegenwehr. Denn wenn du wissen willst, wie es wirklich ist, gibt es viele, die nicht wollen, dass du das dann berichtest.“ Das erlebt er massiv bei den „Bitteren Pillen“. 25 Jahre jung ist er, als er sich gegen die mächtige Pharmaindustrie stellt. „Über 60 Gerichtsverfahren wurden gegen uns angestrengt, wir haben aber kein einziges Wichtiges verloren. Jurist wollte ich nie werden, es war aber hilfreich, Jura studiert zu haben.“ Martin studiert neben seiner journalistischen Tätigkeit gleichzeitig Politikwissenschaften und Jura, Doktorat inklusive. Von Wien zieht es ihn nach Hamburg, dann nach Washington und Moskau, als Korrespondent nach Rio de Janeiro, Prag und wieder nach Wien. Ein Rastloser.

Ein Unbequemer. Ein Guter.

Von 1999 bis 2014 ist Martin Mitglied des Europäischen Parlaments. Als parteifreier, absoluter Freigeist. Bleibt sich auch als Abgeordneter treu. Bleibt unbequemer und investigativer Journalist, lehnt sich auf. Will die Politik ehrlicher und transparenter machen. Ist bei den anderen Parlamentariern unter anderem als vehementer Kritiker des Lobbyismus gefürchtet. Bekommt viel Gegenwind von denjenigen, denen er auf die Finger klopft. Unterschätzt habe er die Wucht der Härte der zwölf Strafanzeigen, mit denen ihn politische Gegner überziehen. „Das war richtig infam. Da hast du gemerkt, wie einer mit dem anderen zusammenspielt. Bei den Ermittlungen kam nie etwas heraus, aber allein, dass die Anschuldigungen erhoben wurden, war Rufmord. Und der ist heutzutage eine tödliche Waffe“, erklärt er, warum er wieder zum Autor wurde. Mit der Erkenntnis, dass das Gute in der Politik keine Chance gegen das mächtige (Geld) hat, dass er, ohne sich zu verbiegen und seine Prinzipien zu verraten, nicht weiterkommen würde.

Zurück an den Bodensee

Ein Schlüsselerlebnis ist eine Recherche bei James Hansen, der in den 1980ern als einer der ersten Wissenschaftler bei der NASA in New York eindringlich vor den Gefahren der globalen Erwärmung warnte. Martin telefoniert danach tief beeindruckt mit seiner Ehefrau und sagt „Es wird sehr ernst, selbst, wenn sich nur das mittlere oder schwache NASA-Szenario bewahrheitet.“ Innerlich trifft er damals die Entscheidung, dass sich sein Lebenskreis irgendwann im Bodenseeraum wieder schließen werde. „Es war absehbar, dass es zwar auch hier wärmer werden würde, aber auch, dass dem Bodensee viele Katastrophen erspart bleiben werden – er ist auf diesem Erdball eine besonders gesegnete Region.“ Der Autor ist an den Bodensee zurückgekehrt. Was das heißt, mag sich jeder selbst fragen.

„Game Over“sei ein weiterer Versuch, in den Köpfen möglichst vieler Menschen Verständnis zu wecken. Und Martin bietet Lösungen an: Denn nach dem „Game Over“ kann durch eine große, glaubwürdige Teilhabe -sozial, ökonomisch, politisch und digital, ein ‚New Game’ entstehen.

Kurz gesagt:

Ohne soziale Gerechtigkeit … hat die Demokratie keine Chance.

Verantwortung bedeutet … in den konkreten Lebensumständen, in denen man sich befindet, sozial verantwortungsvoll zu handeln.

Demokratie muss … dringendst so reformiert werden, dass es eine echte Bürgerteilhabe auf allen Entscheidungsebenen gibt.

Liebe und Mitgefühl können … alles.

Meine Kindheit am Bodensee war …

uferlos.

Meine Familie ist … mein Rückgrat.

Das Leben ist schön weil … auch aus völlig unerwarteten Begegnungen und Momenten heraus immer wieder neues Glück entsteht.

„Game Over – Wohlstand für wenige, Demokratie für niemand, Nationalismus für alle – und dann?“ Penguin Verlag München, 2018, 384 Seiten mit 25 Grafiken, 24 Euro. www.hpmartin.info

Text & Foto: Susi Donner